
Geschichten vom
Glück
Inhalt
7 Vorwort
8 Johann Friedrich von Cronegk: Die
Himmelsleiter
9 Johann Friedrich von Cronegk: Das glückliche Leben
11 Gabriel Garcia Marquez: Baltazars wundervoller Nachmittag
21 Johann Peter Hebel: Die
gute Mutter
24 Bernhard Schulz: Angerechnet
27 Kurt Marti: Neapel sehen
29 Siegfried Lenz: Die Nacht im Hotel
34 Max Frisch: Zwischen Ahnung und Erinnerung
35 Friso Melzer: Die
Fährschiffe
36 Ernst Jünger: Aus den Zeitungen
38 Frank O'Connor: Das Wunder
44 Maxim Gorki: Die Macht des Liedes
46 Myra Morris: Unser Ort soll schöner werden
54 Alice Mavrocordat: Die
weiße Henne
61 Barbara Frischmuth: Glück
70 Konstantin Paustowskij: Glasperlen
77 Bella Chagall: Thora-Freudenfest
79 Emest Hemingway: Alter Mann an der Brücke
82 Hugo von Hofmannsthal: Erinnerung schöner Tage
91 Rainer Maria Rilke: Samskola
99 Wolfgang Borchert: Schischyphusch: oder der Kellner meines Onkels
113 Hans Carossa:Turmbesteigung
123 Quellenhinweis
Texte, in denen ein Glücksgefühl ausgedrückt wird, sind selten. Das hat vermutlich mehrere
Gründe, und nicht nur schlechte. Wer glücklich ist, hat kein Bedürfnis zu reden oder zu schreiben. So ist
Schreibfaulheit fast immer ein Zeichen von Wohlbefinden. Telegramme, auch Briefe, kommen meistens, wenn's
brennt. Auch sind Momente des Vergnügtseins, der Munterkeit unberechenbare Gaste. Sie kommen unangemeldet,
platzen ins Haus und sind meist ebenso schnell wieder verschwunden. Da kann man nicht viel sagen und erklären.
Und noch aus einem anderen Grund ist das Glücklichsein nicht derbeste Stoff fürdie Dichter: Es ist, so könnte
man sagen, fast wie ein Ei, komplett, in sich geschlossen, glatt und zerbrechlich. Beinahe schon vom Ansehen
geht es kaputt, und da läßt man dann besser die Hände und die Augen gleich davon weg.
Nun, nicht alle Autoren haben die Finger davon gelassen, wie die vorliegende Sammlung zeigt. Es
sage aber niemand, der eine oder andere gewichtige Anlaß fürein Glücksgefühl fehle darin. Es gibt unzählige
Anlässe, und man ist höchst erstaunt festzustellen, über was nicht alles Menschen, wenn auch nur einen
Augenblick, glücklich sein können. Glücklicherweise haben wir für Glücklichsein kein Maß und keinen
Katalog.
„Aber ich frage Sie jetzt - hatte mein Vater den Krieg angefangen? War er derjenige, dem das
gute Leben in der Heimat bis obenhin stand? Hatte seine Familie ihm zugeredet, mit dem Gewehr auf die Russen
loszugehen? Meine Jugend habe ich damit verbracht, den Vater in jenem Karren, den das Versorgungsamt ihm
geliefert hatte, vor mir herzuschieben. Er wollte immer gerne in den Wald, und der Wald war auch nicht weit
entfernt von unserer Wohnung. Im Wald konnte er es stundenlang aushalten, um die Vögel zu beobachten und auf den
Wind zu lauschen und die Bäume zu betrachten. Ihm machte auch der Regen nichts aus. Und er sagte immer: ,Heinz,
sagte er, ,du bist mein Sohn, und der liebe Gott wird es dir hoch anrechnen, daß du bei deinem Vater bleibst und
ihn vor dir herschiebst, statt mit den Mädchen zu gehen oder Fußball zu spielen.'"
„Und", fragte ich, „hat Gott es Ihnen angerechnet - was denken Sie?"
„Ja, das hat er", antwortete er, ohne zu zögern, „ich bin gesund und zufrieden. An mir verdienen
die Arzte und die Apotheker nichts, und solange ich in den Wald gehen kann, fehlt mir nichts. Ich furchte mich
nicht vor dem Sterben, wenn es das ist, was Sie meinen." - Da erzählt mir ein fremder Mann sein Leben. Ein Mann,
den ich vorher nie gesehen habe und den ich auch niemals wiedersehen werde. Er hat Gutes getan, Opfer gebracht
und Verzicht auf sich genommen. Und jetzt will er mir klarmachen, daß es ein glückliches Leben war, und das war
es ja wohl auch.
Bernhard Schulz - Angerechnet
Er sah aus wie einer von diesen Pensionären, die morgens im Milchladen den Nachbarn erzählen,
daß sie an Rheuma leiden und daß sie beim Skatspielen gewonnen haben. Ich beneide diese Männer um ihre Ruhe und
um den stillen Glanz in ihren Augen. Ich weiß, daß sie auf dem Lande leben, am Rande der Stadt. Sie wohnen in
einem Häuschen, das von Apfelbäumen und Stachelbeersträuchern umgeben ist. Aus dem Fenster im Dachgeschoß können
sie den Wald sehen. Im Wald gehen sie nachmittags spazieren. „Hallo Fräulein", rief er, „ich möchte zahlen." Auf
dem Notizblock des Fräuleins standen zwei Tassen Kaffee, ein Weinbrand, ein Brot mit Käse und eine Zigarre. „Das
ist für Sie, Fräulein", sagte er, indem er dem Servierfräulein das Wechselgeld zurückgab. Er konnte es sich
leisten, großzügig zu sein; denn er hatte beim Skatspielen gewonnen.
Er stand auf und verließ seinen Tisch, um zur Garderobe zu gehen. Dann fiel ihm ein, daß er
seine Tasche vergessen hatte. Die Tasche stand neben dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Er kehrte zurück und
machte laut eine Bemerkung über den Umstand, daß der Mensch im Alter vergeßlich wird. Ich saß am Nebentisch.
„Sie übertreiben", sprach ich ihn an. „Sie sind nicht alt. Sie sehen noch recht rüstig aus." Und damit hatte ich
nun eine Schleuse geöffnet. „Achtzig", sagte er, „im August bin ich achtzigjahre alt geworden. Da läßt man gerne
den Regenschirm oder die Tasche stehen." Er hob die Tasche auf und schaute nach, ob der Inhalt noch vorhanden
war. „Bücher", sagte er, „für meine Enkelkinder. Meine Tochter lebt hier in der Stadt, sie hat drei Kinder. Der
Schwiegersohn ist Kraftfahrer. Es sind strebsame Leute. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Danke. Ich habe Zeit.
Ich lebe auf dem Lande. Ich weiß nicht, ob Sie Lüstringen kennen. Zu meiner Frau habe ich gesagt. . . Wissen
Sie, was ich zu meiner Frau gesagt habe? ,Die Großstadt', habe ich gesagt, ,ist schön und gut. Aber unsere Ruhe
finden wir nur auf dem Lande.'" Er ließ sich umständlich nieder, saß an meinem Tisch, und das Servierfräulein
brachte noch einmal Kaffee und Weinbrand. Er trug einen Pfeffer-und-Salz-Anzug wie alle diese Pensionäre. Die
Krawatte war altmodisch gebunden. Zwei Ringe am Finger zeigten an, daß er Witwer war. Du fährst also in die
Stadt, dachte ich, um deine Einsamkeit loszuwerden, und du bringst den Enkelkindern Bücher mit.
Ich erfuhr, daß der Schwiegersohn einen Fernlastzug steuert. Täglich Berlin oder Stuttgart oder
Rotterdam oder Göteborg. Manchmal wechselte der Chef die Tour. Er selbst, der Achtzigjährige, war Eisenbahner
gewesen, Vorsteher einer kleinen ländlichen Eisenbahnstation. Schlimm war der Krieg. Im Krieg hatte er es auf
dem Bahnhof mit Räubern, Pennern und Tieffliegern zu tun gehabt. Aber sonst war Bahnhofsvorsteher nicht
schlecht.
Zum Thema Krieg hatte er noch eine Menge zu erzählen. „Die jungen Leute", sagte er, „wollen
keinen Krieg. Mit denen können sie das nicht machen, was sie mit uns gemacht haben. Mein Vater war im ersten
Weltkrieg an der Ostfront. Dort sind ihm auf Posten die Füße erfroren. Im Lazarett haben sie ihm beide Füße
amputiert, erst bis zum Knie, dann über dem Knie, dann immer höher, und zuletzt lag er in einem Karren, den sie
extra für ihn konstruiert hatten. Er war ein Krüppel, den man überall hinschieben mußte." „Das ist ja
schrecklich", sagte ich. Ich fror bei dem Gedanken an die Kälte in Rußland.
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