Die Ehefrau des Landwirts Huser

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Lorup liegt im Hümmling. Der Hümmling ist wahrscheinlich der einsamste Winkel. In Sanktus Lorup gedeihen Heidschnucken, Rauchschwalben und Buchweizenpfaniikuchen.

Wer nie in Lorup gewesen, ist, sollte sich bemühen, dorthin zu kommen. Am besten zu Fuß. Er wird alles los, was ihm bis dahin an den Füßen hing. Den ganzen Klimbim von Kleinkunstbühne, Tonfilm, Modenschau, Eiskonditorei, Tanzkränzchen, Kreppsohlen, Einkommensteuer, modischen Schlipsen, Theaterkrise und Zeitungsnachrichten

Aus Lorup kommen keine Nachrichten. Es gibt keine. Die Loruper kommen von allen Europäern dem glücklichen Zustand einer Insel am nächsten, Sie sind beneidenswert isoliert. Uns Großstädtern hängt der Fortschritt und der Lärm der Welt zur leeren Tasche heraus. Wir sehnen uns nach Ruhe, nach Einsamkeit und Stille. Wir möchten am liebsten auf dem moosigen Rücken einer Schafskate hocken und die Lämmer über die Heide dahinziehen sehen . . .

Die einzige Nachricht, die der Weltpresse aus Lorup zugegangen ist, ist die folgende: „Die Ehefrau des Landwirts Huser sah gestern zum ersten Male in ihrem Leben eine Eisenbahn, Frau Huser ist dreiundseehzig Jahre alt. Sie war mit ihrem Mann zur Kreisstadt gefahren, um Ferkel zu verladen. Bei dieser Gelegenheit erblickte sie die Hümmlinger Kreisbahn."
Der Leser legt erschüttert die Zeitung aus der Hand. Endlich ist dem letzten Einwohner in diesem von der modernen Zivilisation beleckten Erdteil die Bedeutung der Dampfmaschine klar geworden.

Müssen wir befürchten, daß es immer noch Leute gibt, die eine Pleuelstange nicht von einem Schafsknochen zu unterscheiden wissen? Die Nachricht sagt nichts darüber aus, ob Frau Huser etwa in Ohnmacht gefallen oder schreiend davongelaufen ist. Frau Huser saß über ihren Ferkeln und ließ den Anblick des schnaubenden Dampfrosses über sich ergehen.

James Watt, der die Schuld daran trägt, daß eine Division Soldaten in sechs Tagen von Cherbourg nach Suchinitschl transportiert werden kann, braucht sich auf seine Erfindung nichts mehr einzubilden. Eine Kreisbahnlokomotive ist kein technisches Wunder mehr, sondern ein Behelfsmittel für das Fortkommen auf dieser Welt.

Es ist nicht anzunehmen, daß Frau Huser der Presse die Wahrheit über ihre Eindrücke unterschlagen hat. Sie faßte die Schweinchen beim Ringelschwänzchen und schleuderte sie in den Waggon. Dann wischte sie die Hände am Stroh ab, setzte sich auf den Bode und fuhr zurück nach Lorup.

Die Menschheit mit ihrem Fortschritt steht blamiert da. Die Erfindung der Dampfmaschine hat auf Frau Huser keinen Eindruck hinterlassen. Wir alle, die wir um dieses Ereignis herumstehen, sind enttäuscht. Wir müssen zugeben, daß wir ohne Eisenbahn glücklicher geworden wären. Der Schrei der Lokomotive zerreißt unseren Schlaf. Wir treiben von einem Bahnhof zum anderen. Wie schön, wenn wir endlich daheim bleiben dürften.

Saarbrücken 20/10.1954