Miss Karamella  1991

In der Straße, in der ich tagsüber meinen Beruf ausübe, befindet sich ein Süßwarengeschäft. Ich kaufe dort täglich hundert Gramm Pfefferminzbonbons ein. Eigentlich geht es mir gar nicht um die Pfefferminzbonbons, sondern um das Fräulein, das in diesem Süßwarengeschäft angestellt ist. Ich benutze die Pfefferminzbonbons als Vorwand, um mich dem Fräulein zu nähern und ein Gespräch anzufangen.
Es ist ein schönes Fräulein, und ich habe selbstverständlich nicht die geringsten Aussichten, ernst genommen zu werden; denn das Fräulein weiß genau, was von Kerlen zu halten ist, die täglich hundert Gramm Pfefferminzbonbons kaufen und dumm daherreden. Kunden wie ich halten den Betrieb nur auf.
Das Fräulein in diesem Geschäft ist eine filmreife Erscheinung, eine Königin im Reiche des Bonbons, eine Venus, die sich herablässt, Ingwerstäbchen abzuwiegen und Sahnetrüffel einzupacken. Im Dienst trägt das Fräulein ein taubenblaues Seidenkleid mit Kragen und Manschetten aus erlesener Klöppelspitze. Auf dem blonden Haar sitzt ein adrettes weißes Häubchen, das wie ein Diadem wirkt. Es ist ein Diadem, das auf überzeugende Weise den Adel ausdrückt, dessen sich ja auch das Praliné unter den Süßigkeiten erfreut.
Wenn wir im Büro das Fräulein zur Sprache bringen, wir Kerle unter uns, dann sagen wir Miss Karamella. Das Fräulein mit dem Diadem im Haar ist Miss Karamella. Ich gebe zu, dass das bloße Vorhandensein von Miss Karamella, nicht mehr als drei Häuser, entfernt von unserem Büro, eine gewisse Unruhe erzeugt.
Aber es ist eine schöpferische Unruhe, von der sogar unser Arbeitgeber, die Firma Meyer & Co. profitiert; denn jeder von uns achtet sorgfältig darauf, nicht nur glatt rasiert zu sein, sondern auch forsch auszusehen. Wir sind bestrebt, unter allen Umständen den Posten zu halten, der mit dem Anblick des Süßwarenfräuleins verbunden ist.
Leider hat die Sache, was mich persönlich betrifft, einen Haken. Ich mag keine Pfefferminzbonbons, ich mag überhaupt nichts Süßes, und jetzt frage ich mich, ob es mir gelingen wird, die Dame zu bewegen, ihr Arbeitsverhältnis zu kündigen und in den gegenüber liegenden Obstladen umzusteigen. An einen Apfel pro Tag könnte ich mich gewöhnen.