Mildernde Umstände für Störtebeker  1998

Klaus Stolpe und seine Seeräuber - Die Beute mit den Besitzlosen geteilt

Wir nannten ihn Störtebekers Junge, und das kam so: Studienrat Griesand hatte uns erklärt, dass alle Menschen Brüder seien. „Du und du und du“, sagte er, indem er mit dem Zeigestock auf uns deutete, „Ihr seid alle miteinander verwandt. Euch allen ist die Abstammung von Adam, dem Urvater des Menschengeschlechts, gemeinsam."
Aber da kannte der Studienrat die Knaben schlecht, die er mit dem Zeigestock zu Verwandten geschlagen hatte. Sie wollten nicht mit Krethi und Plethi verwandt sein - und wozu auch? Allen voran wehrte sich Klaus Stolpe gegen diese Zumutung. „Ich", sagte Klaus, „ich stamme von Störtebeker ab." Das verschlug dem Studienrat die Sprache. Er schloss den Unterricht mit der Miene eines Gerechten, der gottlob die Verantwortung für Störtebekers Piraterie nicht zu tragen braucht.
Irgendwann kehrte Griesand zum Thema zurück. Er hatte daheim bei einem Glas Rotwein ein schlaues Buch aufgeschlagen. „Klaus", sagte er, „du weißt, dass Störtebeker ein Seeräuber ist, nicht wahr? Er wurde im Jahr 1402 auf dem Grasbrook in Hamburg mit seinen Kumpanen gehenkt“.
Ja, Klaus wusste es, und er fand es großartig - nicht geradezu das Gehenkt Werden, jedoch den Kampf der Vitalienbrüder und Likedeeler gegen die Armut.
Das Thema forderte uns heraus, und am Ende des Schuljahrs wussten wir über die Geschichte der Freibeuterei besser Bescheid als über Cäsars Krieg in Gallien. Ob Klaus Stolpe wirklich ein Ururenkel des Seeräubers war, blieb offen. In Stolpes Familie hielt sich hartnäckig dieser Tick, mit Störtebeker verwandt zu sein.
Was bedeutete es schon, dass Störtebeker gehenkt worden war? Er hatte seine Beute mit den Besitzlosen geteilt. Er hatte der Kirche, in der er getauft wurde, bunte Fenster gestiftet. Die Fenster zeigten Stationen aus dem Leben der Hl. Amalia, der Patronin der Seeleute, in deren Schutz sich auch die Räuber duckten.
„Reden Sie ihm das Thema aus", befahl der Rektor dem Studienrat. Aber da war nichts auszureden. Störtebekers Junge hielt an seinem Stammbaum fest. Wir Mitschüler stammten von Bauern, Handwerkern und Beamten ab, lauter braven Spießern, die sich vor der Freibeuterei eher gefürchtet hätten als sie zu betreiben. Nur einer hatte den Mut, sich zu einem Bösewicht in der Sippe zu bekennen. Er, Klaus Stolpe, bat um mildernde Umstände für seinen Seeräuber.
Wenn die Schule gedacht hatte, dass aus diesem Klaus Stolpe, der hinter der falschen Flagge kämpfte, nichts Gescheites würde, dann hatte sie sich geirrt. Stolpe promovierte mit einer Arbeit über die Geschichte der Freibeuterei im 15. und 16. Jahrhundert. Er machte sich als Autor und Wissenschaftler einen Namen. Professor Dr. Klaus Stolpe, Germanist und Historiker.
Sein Lehrstuhl brachte ihm nichts. Er wurde eingezogen und an der Ostfront eingesetzt. Dort weigerte er sich, auf den Feind zu schießen. Er wurde in ein Strafbataillon versetzt und fiel vor Stalingrad beim Räumen eines Minenfeldes.
Als ich damals die Nachricht erhielt, dass Klaus Stolpe gefallen sei, lebte auch Studienrat Griesand nicht mehr. Er war ein guter Lehrer. Wenn er erreichbar gewesen wäre, hätte ich ihm einen Brief geschrieben. Ich hätte ihm gesagt, dass kein Vorbild zu gering sei, als dass es nicht auch Störtebeker heißen könnte.