Nikolaus mit dem Pferd  1962

Es war an einem Sonnabend im Advent, und der erste Schnee trieb in wässrigen Flocken dahin. Da wurden auf dem Platz vor der Kirche aus einem Lastwagen Pferde abgeladen; sie fielen fast die mit Latten gerippte Rampe hinab und mussten von den Arbeitern gestützt werden. In einer Mauernische der alten Kirche drängten sie ihre skelettieren, struppigen Körper aneinander.
»Oh Mann«, staunten die Bauern, »wo kommen die denn her? Aus des Teufels Küche?« Die Bauern waren gekommen, um das Angebot zu prüfen, das ihnen der Staat machte. Die Pferde kamen aus dem Krieg, der soeben zu Ende gegangen war. Sie waren aus einem Lazarett für Pferde entlassen worden. Ihre Wunden waren noch mit gelber Salbe und grobem Gespinst bedeckt.
»Das sind Kosakenpferde«, rief jemand, »Leute, greift zu. Ein Kosakenpferd ist immer noch besser als gar kein Pferd.«
Die Pferde rührten sich nicht von der Stelle, obwohl der Vertreter des Staates versuchte, sie in Bewegung zu setzen. Die Pferde hatten es satt, sich zu rühren. Sie standen da mit hängenden Köpfen und lappigen Mäulern, und sie warteten darauf, daß sie geschlachtet werden sollten oder was. Der Schnee krustete in klumpigen Flocken auf ihrem braunen Fell.
»Leute, ihr müsst wissen«, rief der Vertreter des Staates, »ihr müsst wissen, dass sie von der Front kommen. Sie haben dort Maschinengewehre geschleppt und Granatwerferschlitten gezogen. Was denkt ihr denn, wie schwer so ein Kasten voller Munition ist! Und ihr müsst auch bedenken, dass es Steppengäule sind, die Kosaken im. Sattel, getragen, haben. Und diese Kosaken, der Teufel soll sie rösten, sind mit ihren Krummsäbeln auf uns losgeritten und haben, versucht, uns den Kopf abzuschlagen. Kopfabschlagen war eine ihrer Spezialitäten, wenn ihr begreifen könnt, was im Krieg Spezialitäten sind. Los doch, entscheidet euch für eins dieser braven Heldenpferdchen!«
Der Handel mit den Kosakenpferdchen dauerte den ganzen Mittag über, und gegen Abend sah ich die Bauern mit den Tieren, die sie gekauft hatten, die Dorfstraße hinabziehen, Schuh um Schuh und Huf um Huf und nie wieder Krieg. Die Bauern sahen nicht aus, als hätten sie das Gefühl, ihnen sei auf gute Art geholfen worden. Die meisten von ihnen waren, wohl ebenfalls im Krieg gewesen und spürten ihre Wunden in der Kälte des Winters. Außerdem hatte es nach dem Handel nicht einmal ein einziges Gläschen Schnaps gegeben, wie es früher doch üblich gewesen war. Kein Schnaps, keine Wurst, keine Musik in der Kneipe. Aus den Wohnungen der Dorfbewohner fiel der rote Schein von Karbidlampen in den nassen Schnee.

Nicht der Pferde wegen erzähle ich diese Geschichte, die doch eigentlich lustig klingen soll, sondern eines Mannes wegen, der als Pfleger mit den Pferden gekommen war, ein Mann mit Pferdeverstand, wie es in der Sprache der Soldaten heißt, und dieser Mann war ein Russe. Er war aus dem Kriegsgefangenenlager abgestellt worden, um in unserem Dorf den Bauern Hinweise für die Pflege und Verwendbarkeit der Tiere zu geben.
Der Russe wurde dem Bürgermeister von einem Mann in Uniform übergeben, der eine rote Binde am Arm trug. Der Russe trottete hinter dem Soldaten her, und er senkte vor jedermann den Kopf, als wolle er anzeigen, dass er mit allem einverstanden sei, was man auch immer von ihm verlangen werde. Er sah aus wie jener Mönch Rasputin mit seinem Vollbart und dem in der Kopfmitte gescheitelten Haar, dessen Bild ich in der Zeitung gesehen hatte. Er trug seine Soldatenmütze in der Hand - vielleicht fürchtete er, dass man sie ihm vom Kopf schlagen würde. Aber man sah auch, dass der Mann vom Soldatenrat kein bösartiger Bewacher war. »Los, Iwan«, sagte er, »komm mit!«
Der Bürgermeister nahm den Mann vom Soldatenrat und den Gefangenen mit, und sie gingen ein Haus um das andere ab, um Quartier zu machen. Der Mann mit der roten Armbinde fand ein Zimmer. Aber den Russen wollte niemand beherbergen. Er war der erste russische Mensch, der je das Dorfpflaster betreten hatte, und die Leute fürchteten ihn. Sie weigerten sich, einen Bolschewiken aufzunehmen. »Wir wollen keine Läuse haben«, sagten sie, »und den Kommunismus erst recht nicht.« »Seid doch vernünftig«, wandte der Bürgermeister ein, »eure Betten sind leer. Ich kann an meinen zehn Fingern die Kammern nicht aufzählen, die unbewohnt sind, und wenn ich die Zehen hinzunehme, reicht es immer noch nicht. Seid doch barmherzig«, bat er, indem er die Hände vor der Brust faltete, als ginge es gleich los mit Beten und Liedersingen, »ihr seid doch Christen! Der Russe hat keine Läuse, und er hat die Bolschewiken nicht einmal kennen gelernt.« Der Bürgermeister war drauf und dran, den Gefangenen in der Sakristei unterzubringen.
Gegen Mitternacht, als die Karbidlampen in den Stuben erloschen waren, hatte der Bürgermeister den Gefangenen immer noch nicht unter Dach gebracht. Der Bürgermeister war müde und fluchte vor sich hin, indes der Russe ihm mit gesenktem Haupt und mit der Mütze in der Hand folgte. Er nahm wohl mit Recht an, dass die Pferde, seine Gefährten aus der russischen Heimat, inzwischen einen Stall gefunden hätten, und das hatten sie auch.
Jetzt kam der Bürgermeister auf den Einfall,, die Schützenhalle zu requirieren, die nach dem Krieg für Versammlungen und Sängerwettbewerbe ohnehin nicht mehr benutzt wurde. Dort bot er dem Gefangenen einen Tisch zum Schlafen an. Er konnte jedoch weder einen Strohsack noch eine Pferdedecke für diesen Mann finden, der doch auch ein Christ war, und von dem die Gemeinde in Zukunft sogar Dienstleistungen erwartete. Der Mann vom Soldatenrat setzte sich auf einen Stuhl, das Gewehr zwischen den Oberschenkeln, so daß er es sofort entsichern konnte, wenn der Bolschewik es wagen würde, Revolution zu machen.
In den folgenden Tagen sah ich den Mann vom Soldatenrat, der ein pensionierter Lehrer war, mit seinem Gefangenen von Hof zu Hof gehen. Es regnete und es schneite und es fror, und in den Bäumen saßen die Krähen und lärmten. Der pensionierte Lehrer trug das Gewehr mit der Mündung nach unten. Er sehnte sich nach seiner Wohnung in der Stadt zurück, das sah man ihm an.
Jefim Serafimowitsch Swerdlow, so hieß der Russe, strich den Pferdchen, die seine Schicksalsgenossen waren, Salbe auf die eiternden Wunden und sorgte für die Fütterung. Er striegelte sie und ließ sie an seinen Händen lecken. Mit der Zeit gewöhnten sich die Dorfbewohner an den Russen, der seine Arbeit verstand und immer bescheiden zur Seite trat, wenn sich ein anderer einmischte. Sie luden ihn sogar in ihre Stuben ein und setzten ihm Essen vor.
Bald schickte der Bürgermeister den Mann vom Soldatenrat in die Stadt zurück. »Wir wollen uns hier doch nicht lächerlich machen«, erklärte er, »es besteht keine Gefahr, daß Serafimowitsch einbrechen oder töten oder die Revolution ausrufen wird.«
Von nun an sperrte der Bürgermeister selbst den Gefangenen in die Halle ein, in der sie ihm einen Verschlag mit  Ofen gezimmert hatten, bis eines Tages auch diese Vorsichtsmaßnahme unterblieb, und das kam so.
Jefims Auftrag war erfüllt, sein Kommando war abgelaufen, er hatte seine Pflicht getan. Die Panjepferdchen, wie sie im Dorf genannt wurden, waren kräftig geworden und konnten für mancherlei Arbeit eingesetzt werden. Als Jefim verabschiedet werden sollte, machte ihm der Bürgermeister einen Vorschlag.
»Ich sehe aus deinen Papieren, daß du das Schusterhandwerk erlernt hast«, sagte er, »wenn du willst, kannst du bei uns bleiben. Uns fehlt ein Schuster.« Am selben Tag noch zog Jefim aus der großen Schützenhalle aus und setzte sich in der Werkstatt der Witwe Wöbeking auf den seit Jahren verlassenen Schemel des Meisters. Die Witwe kochte für ihn und ließ ihn auch in einem ihrer Zimmer schlafen. Es zeigte sich, dass Jefim ein stiller und frommer Mann war, der von seiner Arbeit nur dann aufstand, wenn er zu den Mahlzeiten gerufen wurde oder sonntags zur Kirche ging.

Bald empfanden alle Dorfbewohner Achtung vor dem Mann, der wie Rasputin aussah und ihr verrottetes Schuhzeug in Ordnung hielt. Wir Kinder bewunderten seinen Bart und das in der Mitte gescheitelte Apostelhaar, und statt mit dem unheiligen Rasputin verwechselten wir ihn jetzt mit dem heiligen Nikolaus.
In der Tat wurde er von den Bauern, deren Pferde er gepflegt hatte, für kleine Komödien bemüht. Jefim machte das gut. Sie richteten es so ein, daß Jefim auf einem Pferdchen auf den Hof geritten kam, und das gestaltete seinen Auftritt besonders überzeugend.
Er schüttete in der Bauernstube seinen Sack aus und strich den Kindern übers Haar. In der ganzen Gegend gab es keinen würdigeren heiligen Mann als ihn. Er war ein vorbildlicher Nikolaus, ein russisch sprechender Himmelsbote, eine Märchenfigur aus dem Traum von Millionen Kindern, die um diese Zeit auf Geschenke hofften.
Er lernte deutsch sprechen, und er gehörte zur Gemeinschaft wie jeder andere. Ja, die Leute waren stolz auf ihn und brüsteten sich vor den Nachbardörfern, daß sie etwas Besonderes besäßen, nämlich einen Schuster aus Russland.
Eines Tages wurde der Bürgermeister aufgefordert, den Russen ins Lager abzuschieben, er dürfe jetzt in seine Heimat zurückkehren, hieß es. Hinzugefügt war aber auch, dass er bleiben könne, wenn es sein Wunsch sei.
Es war sein Wunsch, im Dorf zu bleiben, und Jefim Serafimowitsch Swerdloff hat noch viele Jahre auf Schuster Wöbekings Schemel gesessen.