Der Weiße Hase erregte Aufsehen

Er steht auf dem Büffet und weckt so manche Erinnerungen.

Vor einigen Tagen ist ein weißer Hase zu uns in die Stadt gekommen. Selbstver­ständlich ist es kein lebendiger, sondern ein ausgestopfter Hase. Jeder wird zugeben müs­sen, dass ein weißer Hase etwas Besonderes ist.
Hasen sind braun. Ein Hase, der weiß über den Acker hoppelt, ist aus der Art ge­schlagen und erregt Aufsehen. Dass die Jäger dem weißen Hasen nicht grün waren, ist eine schwarze Tatsache. Sie haben ihm drei Jahre lang nach dem Leben getrachtet und sind seiner Fährte mit Lust und mit Pulver in der Tasche gefolgt.
Als es endlich einem Jäger gelang, den Sonderling zur Strecke zu bringen, war der Jubel groß. Er trug ihn im Triumph heim­wärts und beschloss, ihn für Kinder und Kindeskinder ausstopfen zu lassen.
Der präparierte Weißling steht jetzt im Gasthaus „Zum goldenen Anker" auf dem Büfett und ist aus einem haken schlagenden Waldtier zur eingemotteten Skulptur ge­worden. Seine Lichter sind aus Glas gemacht, die Läufe bestehen aus Draht und die Lender aus Pappe.
Was echt geblieben ist, ist das Fell, das heute eine Art weißes Vlies darstellt. Wer weiß, in welcher Bauerndiele oder Gasthaus­stube der weiße Hase nächstens seine Löffel spitzen wird? Motten werden sein gewöll heimsuchen. Tabaksqualm wird seinen Glanz verdunkeln. Staub wird sich auf ihm fest­setzen. Des Hasen weißer Traum ist aus­geträumt. Der Wald hat seine Ruhe. Auch die Jäger haben ihre Ruhe. Und die Hasen, die fortan im Walde hoppeln, sind wieder braun, wie es sich gehört.
Der präparierte Hase ist inzwischen eine lokale Berühmtheit geworden. Es ist offen­bar, dass sich das Interesse der Männer viel leidenschaftlicher solcher Rarität zuwendet als beispielsweise dem Ausbau der städtischen Straßenbeleuchtung.
Was bedeutet denn ein ausgestopfter Hase auf dem Biertresen einer Gastwirtschaft, in der wir Sülzkotelett verspeisen und uns abends zu einem Verdauungsschnaps und heiterem Geplauder versammeln? Ich wette, dass das süßliche Gesicht einer Filmdiva gegen den weißen Hasen ein blankes Nichts ist.
Der Hase weckt Erinnerungen in uns, die seit Jahrzehnten, vielleicht schon seit Jahr­hunderten entschlummert sind. Wann sind wir je zur Jagd gegangen? Wann hätten wir je Muße, uns im Walde umzutun?
Nun ist der Wald zu uns in die Stadt gekommen. Weiß der Himmel, wir hatten vergessen, dass es Hasen gibt. An unserem Horizont knistern Zündkerzen und stinken Auspuffgase. Der Wald wurde uns durch Ruinen ersetzt und das grüne Laub durch Plakate.
Wir haben unser Leben vertan. Wir sitzen da und schreiben Wechsel quer und lassen uns Knoblauchbeeren kommen und kümmern uns um Dinge, die uns nichts angehen. Wald, so grün erbaut da draußen, wenn es sich machen läßt, dann schicke uns doch öfter einen weißen Hasen oder ein blaues Reh oder etwas Ähnliches.

Erschienen: Nürnberger Nachrichten 01.12.61

Von Bernhard Schulz