Wind im November
Die Tage sind voll Wind. Die
Nächte sind voll Wind. Aber es ist nicht mehr, derWind des Sommers, der die Locken der Mädchen weich
zerwühlte und die Leinwand der kleinen Boote auf dem See schwellen machte. Es ist der Wind des Novembers, der
gewaltig dahinbraust.
Der Wind im November bringt Kälte und Regen mit.
Er zaust das Laub von den Bäumen und zwängt sich durch Türritzen und Briefkastenschlitze. Er raschelt in den
Kronen der Bäume im Park und huscht durch die Treppenhäuser in der Stadt.
Er ist schnell und zupft an allen Dingen, deren er
habhaft werden kann, an Hüten, Gardinen, Röcken, Schirmen und Balkonwäsche. Die Leute haben es noch nicht
gelernt, sich gegen den Wind zu schützen; denn noch fürchten sie ihn nicht. Aber bald werden sie wissen, was
Wind ist.
Es ist der Wind, der draußen über die
Stoppelfelder gefahren ist. Er hat auf dem Lande Heuschober und Viehställe durchstöbert. Er hat sich Gerüche und
Düfte aufgeladen der Novemberwind, der Herbstwind, der Winterwind. Geruch von verwesendem Laub und Duft von
lagerndem Obst.
Der Wind im November
schmecktnach den Feuern, in denen sich feuchtes
Kartoffellaub prasselnd verzehrt hat. Er schmeckt nach den Pilzen, die im Walde modern. Er schmeckt nach
Pferdemarkt und Komposterde, nach Heu und Stroh, nach Kiefernborke und Vogelnest.
Wind im November, das ist Sehnsucht nach warmen
Oefen und festem Schlaf. Wind im November, das ist Vorspiel zu den orgelnden Bässen des Winters. Der Keller muß
gefüllt sein. Das Dach darf keine Löcher haben. Die Türen müssen schließen. Der Hausvater greift nach Pantoffeln
und Tabaksbeutel. Es ist die Zeit, da er stockfleckigen Büchern blättert oder Kupferstiche betrachtet
stalienische Stadtansichten, fürstliche Jagdszenen und die sieben Weltwunder.
Aber es ist auch der Wind, der die Stimme des
Totenglöckleins dahin trägt. Wind, der die Haare der Männer zerrauft, die ihren Hut in der Hand halten und der
Grabrede lauschen. Wind, der in welken Kränzen fingert und Kerzen flackern macht.
Die Dunkelheit ist ausgefüllt mit Geflüster, mit
tollen Seufzern und spitzen Schreien. Die Kinder erzählen einander von Gespenstern, die in Hinterhöfen und
Scheunenwinkeln umgehen. Auf den Dachböden knistern die alten Truhen. Im Keller schlurfen Füße. Im Kamin kratzen
Hände. Dies alles ist Wind.
Hundegebell und Hörnerklang, Flintenschuß und
Pferdehuf. Der Schrei der Wildente und das Keckem des Eichhörnchens. Das Getön der Dreschmaschine und das
Gekreisch der Dorfsäge. Tannenzapfen tropfen ins Laub. Die Hütejungen rufen ihre Kühe. Eine Lokomotive pfeift.
Ein Signal klappert. Ein Auto bremst. Der Regen singt. Im November treiben alle Geräusche
vorbei.
Erschienen:16.11.56
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