Sensationen, etwas abgegriffen   1959

Der Mann, der die Lesemappen verteilt, unsere wöchentliche Ration an Lesekraftfutter, ist in den Straßen unserer Stadt so regelmäßig zu sehen wie der Postbote und der Müllkutscher. Es ist sein Beruf geworden, Lesemappen auszutragen.
Wir alle haben erlebt, wie stürmisch die Lesezirkelentwicklung vonstatten- ging. Anfangs reichte dem Mann ein Leinenbeutel fürs Geschäft. Heute ist unser Freund motorisiert Er hat sich ein Motorrad angeschafft, und daran hängt ein Wägelchen, das auf nicht unerhebliche Weise Reklame für das Lesen von Zeitschriften macht.
Die Kundschaft ist in Klassen eingeteilt Die Klasse richtet sich nach der Zahlungsfähigkeit des Lesers. Das Lese Gut selbst zerfällt in „Garnituren“. Die erste Garnitur kommt schnurstracks aus der Druckerei und ist appetitlich aktuell. Die Mappen liegen da wie frisch geschnittene Scheiben vom Brotlaib der publizistischen Volksnahrung.
Die fünfte Garnitur ist schon ein wenig abgenutzt. Die Rätsel sind gelöst. Der Termin für die Einsendung der Lösung zum Fünfzigtausendmarkpreisausschreiben ist verflossen. Der Frauenmörder, der vor fünf Wochen noch fieberhaft gesucht wurde, sitzt hinter Gittern. Der Schnee, so er auf den Dächern des Alpendorfes liegt, ist geschmolzen. Der Außenminister, der zur Konferenz kommt, ist abgesetzt. Das glückliche Filmehepaar hat längst das Hochzeitsservice zerdeppert und die Scheidung eingereicht
Alle fließt, sagt Heraklit. Nirgendwo tritt diese Erkenntnis deutlicher und sinnfälliger zutage als im fünften Abonnement eines Lesezirkels. Was gibt es Neues? Lauter Altes gibt es neu. In der fünften Garnitur herrscht sibirische Kälte, indes auf dem Titelblatt der ersten Garnitur schon die Magnolien an der Riviera aufbrechen. Und das nur deshalb, weil einem die Groschen fehlen.
Wie gesagt, dass der Ätna in Tätigkeit getreten ist, erfahren die Fünfte-Garnitur-Leser erst demnächst in diesem Lesezirkel. Für sie geht die Zeitenuhr immer nach, sie marschieren immer hinten, sie dürfen erst dann an der Moritat schlecken, wenn die anderen sich längst an saftigen Novitäten atzen.
Nun, dafür kommen die Leser der fünften Garnitur in den Genuss der lustigen Randbemerkungen zu dem Tralala und Juppheidi des Lebens, obwohl es verboten ist, die Mappen zu „beschmutzen“. Jedoch sind Kommentare noch lange kein Schmutz, da sei das Grundgesetz vor. Notizen wie diese etwa: „Blöder Hund“ und „Alberne Ziege“ sind lediglich Äußerungen des demokratischen Selbstbewusstseins. Jeder soll seiner Meinung mit Tintenstift Ausdruck verleihen. Wer schreibt, der bleibt - auch im Lesezirkel.
Natürlich ist es unfein, wenn jemand den Damen Schnurrbärte anzeichnet und den Politikern Dolche ins Gebiss malt So was gehört sich nicht. Aber schließlich gibt es schlimmere Dinge auf der Welt als derart martialische Retuschen.
Der Inhalt eines Lieferwägelchens voller Lesemappen umfasst die Sensationen von rund sechs Wochen. Was da zentnerweise an Flugzeugabstürzen, Schönheitsköniginnen, Eisenbahnunglücken, Dschungelkrieg, Krebsforschung, Missgeburten, Filmverheißungen, Totogewinnen, Büstenhalter Reklame und Romanstoff zusammenkommt ist erstaunlich.
Gutes steht allerdings nicht drin. Es ist ein besonderes Merkmal unserer Zeit, dass das Gute nicht zur Drucklegung verlockt. Welche Zeitschrift käme wohl auf den Einfall, den Bäckermeister H. aufs Titelblatt zu setzen und darunter zu schreiben: „Hier ist der Mann, der seit 32 Jahren allmorgendlich um viere aufsteht und für uns Brötchen bäckt!“? Wann wäre je eine Reinemachefrau der Ehre der Publikation teilhaftig geworden? Bäckermeister und Reinemachefrau sind, titelblattmäßig gesehen, verlegerischer Selbstmord.
Das Gute reizt nicht zum Lesen; es ist langwellig. Kurzweil bereitet nur die Kugel, die nicht ins eigene Fleisch dringt. Vergnügen macht nur der Eisberg, der den Dampfer rammt, auf dem andere tanzen. Lust erregt nur die Handfessel, die sich um die Gelenke fremder Männer legt.
Alles fließt, am beharrlichsten aber die Druckerschwärze.