Holz für Kaffeemühlen und dergleichen  1976

Das Schulhaus in L. bestand aus zwei Klassenzimmern und der Dienstwohnung für den Lehrer. In jedem Raum wurden Knaben und Mädchen unterrichtet, die jeweils zusammen vier Klassen ausmachten. Der Lehrer hieß Johann Dresbach, und auf dem Emailschildchen unter seiner Türklingel stand »Hauptlehrer«.
Die Lehrerin trug immer schwarzes Zeug, sie erlaubte sich nichts Farbiges, aber sie legte sich manchmal ein silbernes Kettchen um den Hals. An dem Kettchen war ein Medaillon befestigt, in dem die Fotografien ihrer Eltern steckten, die längst verstorben waren. Wenn Fräulein Habernickel guter Laune war, knipste sie mit dem Fingernagel das Medaillon auf und zeigte es den Mädchen der achten Klasse, die darauf aus waren, sich bei der Lehrerin einzuschmeicheln.
»Es waren gute Christen«, sagte Fräulein Habernickel dann jedes Mal. Sie pflückte ein batistenes Tüchlein aus dem linken Blusenärmel und führte es, obwohl sie eigentlich doch heiter gestimmt war, an die Augen.
Aber da war noch jemand, dessen Geist in diesem Schulhaus lebendig war. Er war hier vor langer Zeit, als die Schule erbaut worden war, Lehrer gewesen. Sein Name war Heinrich Bungard, und seine Fotografie sah dem Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock ähnlich, vorausgesetzt, dass sich jemand erinnerte, wer Klopstock gewesen war und zu welcher Sorte von Dichtern er gerechnet werden musste. Klopstock schrieb Oden, an Fanny zum Beispiel.
Heinrich Bungard schrieb keine Oden, er dachte gar nicht daran, aber er pflanzte Bäume. Die Dorfbewohner erzählten sich, dass er versessen darauf gewesen sei, das Schulhaus in einen Wald von Nussbäumen zu stellen. Es ist anzunehmen, dass Bungard zur Sparkasse, wenn es damals überhaupt eine gegeben hat, nicht das rechte Vertrauen besaß, jedenfalls legte er sein Erspartes in Walnuss Pflänzlingen an, und diese Nuss Bäumchen, Kuss Bäumchen, Heck-mir-Geld-Bäumchen waren in jenen Jahren, als ich die Schule besuchte, gewaltige Bäume, die das kleine Haus überragten.
Da standen also diese Nussbäume, Holz für das Leben nach dem Tag der in Ruhestellung des Lehrers, Holz für die Zukunft des Dorfes, Holz für dieses und jenes. Aus den Bäumen sollten, so hatte der Lehrer es gewünscht, Hochzeitstruhen, Betten, Wiegen, Esstische, Schaukelstühle, Kaffeemühlen, Bilderrahmen, Uhrgehäuse und selbstverständlich auch Särge gemacht werden.
»Bungard selbst hat eine Kiste aus Fichtenholz bekommen«, erinnerte sich mein Vater, als von dem alten Lehrer die Rede war, »einen Fichtenholzsarg, obwohl er doch für einen Nussbaums arg gespart hatte. Die Erben scheuten sich, einen dieser schönen Bäume zu fällen. Hätten sie es tun müssen - das haben wir uns damals gefragt.«
Im Novembersturm prasselten nachts die reifen Früchte auf den Schulhof und auf das Kopfsteinpflaster der Straße. Nüsse waren Nahrung. Nüsse, sage ich, Walnüsse, edles Erzeugnis, beste Qualität, üppige Zinsen des Finanzgebarens eines klug denkenden und gescheit handelnden Schulmeisters.
Ich hörte die Nüsse fallen; sie prasselten, krachten, trommelten in meinen Schlaf. Ich spürte ihre stachelige Schale an meiner Haut. Knaben wissen so was. Sie ahnen ja auch, wo Eichhörnchen geboren werden, Eulenkinder schlüpfen und junge Hunde zur Welt kommen.
Mitten in der Nacht stand ich auf, hinein in die wadenlange Manchesterhose, hinein in Sturm und Regen und Eulenschrei. Mondlicht lag auf der nassen Erde. Ich lief zum Schulhof, um an die Nüsse zu kommen, bevor die alten Frauen zur Messe gingen und die Früchte in ihre Handbeutel sammelten.
Ich stopfte die Taschen voll, trug Nüsse in der Mütze heim, versteckte Nüsse hinter Büchern und Dachpfannen. Klau Nüsse, sagte ich mir, wer weiß, wie es dir eines Tages ergehen wird. Heute sehe ich, dank Heinrich Bungard, dessen Klopstock Porträt mir vor Augen schwebt, auf eine Walnuss Kindheit zurück, um die mich jeder beneiden wird, der etwas vom Klauen und vom Abenteuer hält.
Ich bin mit Nüssen groß geworden. Damals war Krieg und Nachkrieg und wer weiß was alles. Nüsse waren besser als Brot aus Baumrinde oder Suppe aus Sauerampfer, den ich in den Wiesen am Bach suchen musste, das bitte ich zu verstehen.
Ich halte etwas von Nüssen. Meine Worte hier sind ein Lobgesang auf Nüsse. Nüsse sind ein Teil meiner Erinnerung an früher.
Heute habe ich den Herbst und den Winter hindurch bis zu den Ostereiern hin, die um Pfingsten herum nach Schwefel schmecken, Walnüsse in einem Korb liegen, einige sogar mit Schale, mit dieser grünen igeligen Haut, und dann denke ich an das Schulhaus im Nussbaum Wald zurück und an den Lehrer Heinrich Bungard, dessen Fotografie über dem Lehrerpult hing. Und jetzt folgt die Pointe, haltet euch fest, ihr Geschichtenleser und Nachrichtenverzehrer, jetzt kommt erst die wahre Nussbaum Freude, das reine Holzvergnügen, der Witz an der Altersversorgung, den Bungard aber nicht geplant hatte: Im Weltkrieg, der mit der römischen Nummer II belegt wird, sind die Bäume auf Befehl der Reichsregierung geschlagen worden, nicht etwa, um Kaffeemühlen daraus herzustellen. Was sie daraus machen wollten, waren Gewehrkolben. Ich erinnere mich des Unterrichts, der mir damals erteilt wurde, als ich Rekrut war.
»Kolben aus Nussbaumholz«, belehrte uns der Unteroffizier, »haben sich im Nahkampf bewährt. Nussbaumholz splittert nicht. Nur ein Gewehrkolben aus Nussbaumholz ist fest genug, um damit dem Feind den Schädel einzuschlagen. Haben Sie das verstanden, Sie da mit der Brille?«
Sie da mit der Brille, das war ich. Ich hätte antworten müssen: Ich will aber niemandem den Schädel einschlagen.
Statt dessen sagte ich: »Jawohl, Herr Unteroffizier«, und das war die Vorschrift.