Jim aus dem Waisenhaus 1975

Wir lernten Jim in Pauls Kaffeehaus am Markt kennen. Es war das Lokal, in dem der Besitzer bis gegen 18:00 Uhr Apfelstrudel herstellte, und ab 20:00 Uhr machte Paul auf einer elektrisch verstärkten Zither Stimmung. Paul Simon kannte jede Menge Schnulzen, in denen Maderln, Wilderer und Edelweiß vorkamen.
Pauls Kaffeehaus am Markt war jeden Abend proppenvoll. Die Kellnerinnen schenkten Weißwein aus, den Paul aus irgendeinem Grund Prälaten Wein nannte. Es war die Qualität von Wein, die man zu dieser Qualität von Musik trinken musste. Ich meine das im Ernst. Die Kellnerinnen trugen Dirndlkleider mit Silberschmuck, den sie von ihren Müttern geerbt hatten, und sie hüpften immer ein bisschen nach der Musik, die der Chef draufhatte.
An unserem Tisch waren gerade zwei Stühle freigeworden, und Jim und ein Mädchen nahmen Platz. Es war vom ersten Anschauen etwas vorhanden, dass wir später als Sympathie bezeichneten. Sympathie ist ein Wort für das Gefühl, dass man sich leiden mag.
Jim war ein farbiger, ein milchschokoladener Typ mit fast blauschwarzem Haar, etwa fünfunddreißig Jahre alt, und das stimmte auch, und das Mädchen war so weiß, als hätte es nie einen Strahl Sonne abbekommen. Was uns an Jim auffiel, war eine Wunde an der rechten Hand, und er gab zu, dass es eine Brandverletzung war. Später erfuhren wir, dass er an jenem Tag ein Kind aus einem brennenden Bauernhaus herausgeholt hatte.
Jim war Angestellter bei einer amerikanischen Einheit, die hier in Garnison lag, eine Art Zahlmeister oder was, und zuerst wussten wir nicht, was das war. Aber Jim war derjenige, der das Baby aus dem brennenden Haus gerettet hatte, indes die Feuerwehrleute die Schläuche aufrollten und die Motoren in Gang setzten.
„Jim ist so“, sagte das Mädchen, als Jim zur Theke gegangen war, um Zigaretten zu holen, „er ist überall der erste, wo etwas zu retten oder zu heilen oder in Ordnung zu bringen ist. Jim ist besessen von der Idee, dass die Leute sich gegenseitig unterstützen müssen.“.
Wir trafen uns an jedem Abend in Pauls Kaffeehaus am Markt, und mit der Zeit erfuhren wir von Brigitte, dass Jim ein Waisenkind war und in einem Heim in London gelebt hatte. Als Jim vier Jahre alt war, wurde sein Vater über Deutschland abgeschossen, er war Bordschütze in einem Kampfflugzeug, und ein paar Tage später wurde Jims Mutter bei einem deutschen Fliegerangriff getötet. Jim und ein Bruder, der fast noch ein Baby war, überlebten den Angriff im Luftschutzkeller, und noch in derselben Nacht wurden sie im Waisenhaus untergebracht.
Der Vorsteher im Waisenhaus kannte nicht einmal die Namen der beiden Knaben. Später, als Jim einen Pass brauchte, gab irgendein Beamter, der vermutlich ein Witzbold war, Jim den Hausnamen Bentley und trug irgendein verdammtes Datum als Geburtstag ein. Ein gewisser Bentley war Autokönig in England und rechnete zu den Millionären, das sollte der Witz an der Sache sein.
„Er kann sich an seine Eltern nicht erinnern“, sagte Brigitte. „Er weiß nicht, wie sie ausgesehen haben. Der Vater war Engländer. Aber die Mutter mag eine Brasilianerin oder Puerto-Ricanerin gewesen sein. Jedenfalls war sie dunkel. Jim hat keine Verwandten in England. Seine Heimat drüben ist immer noch das Waisenhaus, in dem er großgeworden ist.“
Jim selbst sprach nie über sein Leben. Er war glücklich, dass er davongekommen war und bei den Amerikanern angestellt war und dass es dieses Kaffeehaus gab, in dem wir Zithermusik hören und Prälaten Wein trinken konnten, und vielleicht würden er und Brigitte eines Tages heiraten und in das Londoner Waisenhaus zurückkehren, um für die vielen kleinen Jungs, die dort leben, das Essen einzukaufen.
Manchmal sang Jim, er sang in Pauls Kaffeehaus am Markt, und es waren die Lieder, die Louis Armstrong gesungen hatte. Wenn wir die Augen schlossen, dachten wir, da steht Armstrong und krächzt. Jims Stimme knarrte wie Eisenkufen in einem Kiez Beet, und das ganze hatte etwas mit dem Geruch von Whisky zu tun. Jim parodierte natürlich nur. Es war eine Masche, Armstrong nachzumachen, und die Leute waren alle miteinander begeistert. Aber Jim war nicht Armstrong, Jim war Jim, und er war auch nicht der Sohn vom alten Bentley, der die Automobilfabrik erben würde.
Und dann konnte Jim auch noch Harmonika spielen. Wenn er seine Harmonika aus der Tasche zog und in der Hand ausklopfte, wie das die Harmonikaspieler tun, fingen einige Mädchen im Voraus an zu weinen, und ihre Tränen machten an diesem Abend alles fröhlich und traurig zugleich, sodass wir uns überhaupt nicht mehr auskannten. Aber so waren diese Abende mit Jim.
Ich muss noch erzählen, was Jim sonntags tat. Sonntags fuhr Jim in seinem alten Volkswagen zu einem Tierheim hinaus, holte zwei Hunde ab, die dort als herrenlos abgegeben worden waren, und ging mit Brigitte und den Hunden spazieren. Im Kofferraum hatte er die Knochen mit dem Fleisch daran gesammelt, dass die amerikanischen Soldaten übriggelassen hatten, und die Hunde, diese Waisen aus dem Tierreich, hatten einen fetten Tag auf den Almwiesen.
In den vergangenen Wochen haben Jim und Brigitte uns besucht, ganz oben in Deutschland, wo von der See her Wind und Kälte kommen. Wir fuhren im Auto umher, die Fachwerkhäuser und die Backsteinkirchen, und als wir mitten im Zeigen waren, flog vor uns ein Wagen aus der Kurve. Das Fahrzeug purzelte einen abschüssigen Acker hinab und blieb auf dem Rücken liegen, und die Räder drehten sich noch eine Weile in der Luft.
Wir waren die ersten an der Unfallstelle. Jim sprang sofort aus dem Wagen, eilte auf den Acker und zog zwei junge Burschen unter dem Fahrzeug hervor. Er legte ihnen Verbände an, deckte den einen, der ohnmächtig war, mit seiner Jacke zu, und legte dem anderen, der vor Schmerzen schrie, seinen Pulli unter den Kopf. Er tat alles, was getan werden musste, in diesen ersten zehn Minuten, und dabei schauten ihm 100 Sonntagsfahrer zu, die ebenfalls ausgestiegen waren. Aber sie hatten nicht vor, sich den Sonntagsanzug und die Hände schmutzig zu machen. Immerhin rief einer von ihnen die Polizei an.
Jim fuhr im Unfallwagen mit zum Krankenhaus, dass dreißig Kilometer entfernt lag. Er achtete dabei weder auf uns noch auf seine Kleidung oder gar auf die Zeit, die er bei diesem Dienst am Nächsten verlor. Er hielt den beiden verunglückten die Blutkonserve, links in der Hand eine Ampulle unten rechts in der Hand eine Ampulle, und während der ganzen Fahrt versicherte er den beiden Burschen in seinem Londoner Vorstadt Dialekt, dass sie am Leben bleiben würden, und in wenigen Minuten lägen sie in schneeweißen Bettchen, und auf jeden von Ihnen kämen drei bildhübsche Krankenschwestern. „Versteh'n, altes Dummkopf?“ sagte Jim.
Die beiden Burschen sollen, nachdem sie nun tatsächlich in weißen Bettchen lagen, gefragt haben, was denn das für ein schwarzer gewesen sei, der ihnen aus dem verbeulten Blech herausgeholfen hatte. Und einer gab immerzu mit dem Pulli an, den der schwarze ihm unter den Kopf gelegt hatte. Auf dem Pullover, der die Farbe von Zitronen besaß, stand der Name des Clubs eines britischen Fallschirmspringerregiments, in dem Jim in Afrika gedient hatte. „Was heißt das?“ fragte der Bursche, „was heißt Parachutist?“
„Wörtlich übersetzt heißt das Fallschirmspringer“, antwortete der Arzt, „aber in Ihrem Fall übersetzen sie das Wort besser mit Lebensretter.“
Und Jim, mit dem ich längst bei einer Flasche Wein saß, würde hinzugefügt haben: „Versteh'n, altes Dummkopf?“