Des Vaters Hände

Diese Stunde brennt über meinem Leben wie ein Stern: Es war Krieg, wir wollten den Vater heimholen, er hatte geschrieben, dass er in Urlaub kommen würde. In der Nacht brachen wir auf, meine Mutter, ein Knecht und ich. Es regnete, der Sturm pfiff uns scharf um die Ohren, und das Pferd dampfte Wärme in un­sere Gesichter. Der Vater — wer war das? Ich kannte ihn nicht, aber es war erregend abenteuerlich, ihn abholen zu dürfen. Auf der Fahrt zur Bahnstation dachte ich nur daran, ob ich ihn liebhaben könnte. Ja gewiss, ich hatte ihn schrecklich lieb, das sagte ich auch.
Von all dem, was dann geschah, weiß ich nur, dass ein Mädchen in einer burgmauertiefen Fensternische stand und bügelte, und vielleicht summte sie ein Lied dazu. Eine Karbidlampe glomm an der Decke, und von draußen drangen die Geräusche rangierender Züge in meinen fiebrigen Schlaf. Als ich erwachte, war es hell. Wir saßen wieder in unserem Planwagen und es regnete. Und jetzt, dies ist mir deut­lich gegenwärtig, spürte ich mich von zwei warmen Händen umfasst, die sich auf meiner Brust falteten. Ich sah nur diese Hände, weiter nichts. Ich wusste, das ist der Vater, das sind seine Hände. Ich wagte nicht, mich zu rühren, ich stellte mich schlafend, und die breiten Hände umfingen mich mit einer Woh­ligkeit und Wärme, die ich bis dahin nie ge­kostet hatte. Ich öffnete die Augen nur einen winzigen Spalt breit. Kannte ich diese Hände? Liebte ich sie? Waren sie etwas, das ich an­rühren und liebkosen durfte wie die Hand der Mutter? Oder würden sie mich strafen, wenn ich mich darauf niederbeugen würde? Ich wagte immer noch nicht aufzuwachen. Ich beschaute diese Hände, die meine Brust um­spannten, die Landschaft dieser Hände, ihre Furchen, Hügel und Schwielen, die verwachse­nen Nägel und die blauen Adern auf der braunledernen Haut. Diese Hände waren nicht schön, nicht so weiß und fein wie die Hände der Mutter, aber sie strömten Kraft aus, eine alles behütende und läuternde Kraft. Ich konnte nun doch nicht mehr langer lügen, mein Herz klopfte wild, ich war dem Weinen nahe. Wie konnte ich den Vater bergen? Wie hinterhältig ich war! Ich beugte mich schluchzend nieder und liebkoste des Vaters Hände. Dabei rief ich ein um das andere Mal: „Vater, mein Vater ..." Was sich dann be­gab, weiß ich nicht mehr. Ich ruhte an der Brust des Vaters, er lachte wohl, und auch die Mutter lächelte in meinen Schmerz hinein: „Dummer kleiner Junge."
Eines Nachts wurde der Vater von einem Kameraden abgeholt. Die Mutter weinte. Draußen orgelte der Sturm um das Haus. Der Vater ging, und was von ihm übrigblieb in meinem Herzen, das war die Erinnerung an zwei blutwarme breite, hornige Fäuste, die ich auf meiner Brust ruhen spürte. Bisweilen über­fiel mich diese heiße Liebe zu ihm, die ich damals auf der Heimfahrt erlitten hatte, abends, wenn ich schlafen ging, oder beim Erwachen morgens. Dann ging ich in dieser Wohlge­borgenheit ganz auf, ich neigte meinen Mund auf diese Hände und mit den Fingern tastete ich spielend das Gewirr der vielen blauen Äderchen ab, die des Vaters Hände be­deckten.
Später kam dann ein Tag; da hieß es, der Krieg sei aus, der Vater liege im Lazarett und würde bald heimkehren für immer. Die Mutter bereitete alles vor, um ihn zu empfangen, und wir Kinder liefen ein paar Tage lang in un­seren besten Kleidern umher. Aber es dau­erte noch eine Weile, bis der Krieg auch un­seren Vater heimkehren ließ, und als er kam, war alles anders, als ich es mir gedacht hatte.
Ich begegnete auf der Straße einem Soldaten, der sich zu mir niederkniete und meinen Kopf an seine Brust presste. „Bist du mein Junge", fragte er. Ich sagte nichts, ich wusste nicht, wer ich war, ich hatte mit den Knaben des Dorfes ein Spiel begonnen, ich musste mich ver­stecken, das erforderte die Spielregel, und nun war da plötzlich ein Soldat.
Der Vater, durchfuhr es mich, der Vater ist da ... Ja ja, aber was nun? Ich musste mich doch verstecken?
Ich war wie benommen. Was sollte ich tun? Der Vater — war er mir fremd geworden seit­dem? In meiner Brust wogte es. Ungläubig starrte ich den Soldaten an. Das war der Vater nicht, nein, mein Gott, der Vater war anders als dieser Mann da, anders . . . Ich be­griff diese Wandlung nicht. „Junge", sagte der
Mann eindringlich, „kennst du denn deinen Vater nicht?" ich erwiderte nichts, ich stemmte mich, glaube ich, sogar ein wenig zurück.
Ich musste den Soldaten begleiten, das Spiel war aus, die anderen Knaben standen da und schauten uns nach. Wir gingen richtig den Weg durch das Dorf auf unser Haus zu, und da war die Mutter und warf dem Heimkehrenden beide Arme um den Hals.
Erst als der Vater in der Stube seinen Mantel auszog, bemerkte ich, dass er einen Aermel leer in die Tasche seines Waffenrocks gestopft hatte. War das der Vater? Ich hatte doch immer von zwei breiten, warmen Händen auf meiner Brust geträumt? Als nun die Mutter, die in ihrer Liebe und Aufregung nicht beachtet haben mochte, dass ich es gewesen war, der den Vater heimgebracht hatte, mich aufforderte, dem Vater Guten Tag zu sagen, da sprang mich ein unfassbares Weh an. Ich schrie auf und stürzte aus der Stube. Der Vater eilte mir nach, und als er mich eingeholt hatte, umklammerte ich schluchzend vor Glück und Verzweiflung den leeren Ärmel, während der Vater mit seiner gesunden Hand lächelnd meinen Kopf streichelte.

Aus: Hannoversche Zeitung 24.Dezember, 1944