Wir nannten ihn Pilo

Er übte in unserem Dorf das sehr achtbare Gewerbe eines Schuhmachers aus. Schuhe wurden damals nach Maß und von Hand gemacht. Es gab noch keine Läden mit Regalen voll modischen Schuhwerks mit den dazu angestellten gazellenartig schönen Damen, die einem heute die Schnürsenkel lösen und knüpfen. Ein Schuhmacher war ein guter Mensch, dem man trockene Füße verdankte.
Wir nannten ihn Pilo, aber Pilo war nicht sein richtiger Name. Er hieß so, weil in seiner Werkstatt eine emaillierte Tafel hing, die den Gebrauch einer Schuhcreme namens »Pilo« empfahl. Wenn meine Mutter die Werkstatt des Meisters betrat, dann sagte sie »Guten Tag, Herr Vossebrecker, wie geht es Ihnen?
Herr Alwin Vossebrecker antwortete, dass er zufrieden sei, vom Rheuma in der linken Schulter abgesehen, und nun sei ja auch der Herbst gekommen. Erwies mit der Ahle auf die Regale hin, die vollgestopft waren mit reparaturbedürftigen Stiefeln, mit Arbeit also.Von dieser Stunde an, in der es draußen kalt und nass geworden war, hörten wir Pilo auch in den Nächten klopfen und hämmern. Er war jetzt derjenige, der zeigen musste, was er gelernt hatte.
Er saß da auf seinem Schemel und klopfte und stichelte und nähte und schnitt Sohlen aus gegerbten Rindshäuten, die mannshoch in einer Ecke der Werkstatt standen. Sie standen da wie Orgelpfeifen, mit dem Unterschied allerdings, dass sie nicht tönten, sondern aufregend rochen. Der Geruch von Leder ist von allen Gerüchen der Welt der eindringlichste, er ist der Geruch des Abenteuers.
Indes konnte von Abenteuern bei Pilo keine Rede sein. Er selbst, den man sich weder als Eroberer noch als Forschungsreisenden vorstellen konnte, trug Filzpantoffel. Er hatte das Dorf nie verlassen, und er war nie auf den Gedanken gekommen sich umzuschauen, wie es andere Dorfbewohner taten, die mit Mäusefallen, Feilen und Besen hausieren gingen.
Er war ein spindeldürrer, trockener, ganz und gar humorloser Mensch. Aber er war über zwei Meter groß, so dass er beim Militär in keine Uniform, in kein Feldbett und letzten Endes auch in keinen Sarg hineingepasst hätte. Bei der Betrachtung seines Äußeren fiel auf, dass im Gegensatz zu seinem Körper der Kopf zu klein war, ein Vogelkopf, den obendrein eine Glatze zierte, der blank war wie eine jener Elfenbeinkugeln auf dem Billardtisch in Speichers Hefte, das Pilo nie betreten hat.
Lustbarkeit, das gab es für Pilo nicht. Er ging nicht einmal zum Stiftungsfest der Freiwilligen Feuerwehr oder zum Gesangswettstreit der Kirchenchöre, der einmal im Jahr stattfand. Ich glaube, dass er ein für alle Male damit aufhören wollte, sich mit seiner Glatze in der Öffentlichkeit sehen zu lassen.
Er liebte es, wenn die Kinder in der Dämmerung, die ja voller Geheimnis ist, an das Fenster der Werkstatt schlichen, um mit totenkopfähnlichen Masken zu erschrecken, die sie aus Runkelrüben geschnitzt hatten. Die Maske wurde auf einen Stock gesetzt und wie eine Laterne innen mit einem Teelicht erhellt. Pilo spielte den Angsthasen, schrie Zeterundmordio und Jesusmariaundjosef, und verkroch sich hinter die rindsledernen Häute in der Ecke. Es war in jedem November derselbe Spaß, den die Kinder mit dem Schuster trieben, und er wartete geradezu darauf.
Pilo las am liebsten Kalender. In der Hauptsache gab es Haus-, Heimat-, Bauern-, Tierschutz- und Missionskalender. In der Vorweihnachtszeit ging meine Mutter im Dorf umher und sammelte die ausgelesenen Kalender ein, hüllte sie in Geschenkpa- pier und überreichte die Gabe, aufgedickt mit einem Napfkuchen, dem stets dankbaren Pilo.
Er wohnte in einem Fachwerkhäuschen, das sein Eigentum war und nur aus der Werkstatt bestand und einem Nebenraum mit Bett. Seine Kleidung hing an Nägeln an der Wand. Aber das Häuschen hatte ein Vorgärtchen mit Kapuzinerkresse am Zaun entlang und mit Astern bis in den Dezember hinein. Hinten am Häuschen war ein Verschlag angebaut für die Ziege, die dem Meister Milch lieferte. »Ich habe es auf der Lunge«, sagte er.
Meine Mutter war eine fromme Frau, die immer darauf bedacht war, gute Werke zu tun. Einmal bestand ihre gute Tat darin, mich, ihren Sohn, dem Schuhmachermeister Vossebrecker anzudienen, um die Ziege zu hüten. Ich musste die Ziege, die »Sonja« hieß, an den Wegrändern der Gemeinde entlangführen, wo sie ein Maul voll saurer Gräser finden konnte. Und so sehe ich mich immer noch mit »Sonja«, der Sahneziege, über die sich nichts Nachteiliges vorbringen lässt, unter entlaubten Apfelbäumen wandeln, im nieselnden Regen, vom Sturm bedrängt, aber auch mit dem Blick auf einen vom Abendrot verklärten Himmel.

Main Echo, 16. November 1991