November

Graue, ausweglose Dämmerung im November. Das kalte Licht der elektrischen Bogenlampen im Park, die im Sturmwind schaukeln und Lichtfetzen umherstreuen. Die Zeitungen bringen Nachrichten von Schiffen, die in Seenot geraten sind. Ein Hurrikan hat eine Stadt vernichtet. In einem Hotel hat sich ein Liebespaar vergiftet. Das Mädchen war achtzehn Jahre alt.

Ein erleuchtete Schaufenster mit Rumflaschen und Apfelkisten, mit Nüssen und kleinen unwichtigen Dingen, die ein Gastgeber braucht, um eine Tafel herzurichten. Das Gesicht einer vorbeieilenden Frau, die man zu kennen glaubt und die eine namenlose Sehnsucht in einem hinterläßt.

Aus einem Radio orgelt die Stimme eines Negersängers. Neonröhren zaubern seltsame Lichtreflexe auf den Asphalt. Regen sickert tonlos in erhitzte Gesichter. Sturm knarrt im Geäst großstämmiger Bäume, die vor einem Schulhaus oder vor einem Verwaltungsgebäude stehen. Die Türen sind längst geschlosen. In den kalten Zimmern krustet Pfeifenrauch und Geruch von Akten und Männerjacken.

Pläne, die niemand ausführt. Gesuche, die niemand beantwortet. Schreie, die kein Mensch hört.

Das sind Gedanken, die weh tun.

Schmökern in alten stockfleckigen Büchern. Es ist aufregend, sich mit Kupferstichen zu beschäftigen und den zarten Linien des Meisters nachzuspüren. Gestalten aus vergangenen Jahrhunderten ziehen vorbei. Ein Feldherr, der eine Stadt belagert. Soldaten mit Hellebarden und Brandfackeln. Ein Revolutionär, der geköpft wird. In einem Medaillon ein Frauenbildnis von betörender Schönheit.

Stöhnt der Wind im Kamin? Wärme staut sich wohlig im Zimmer. Das heiße Wachs einer Kerze tropft auf den Handrücken. Blick durch die Gardine auf eine Stadt mit ihren zuckenden Lichtsignalen und Leuchtreklamen, oder auf eine Stallaterne, die unter einem Bauernwagen hängt und die Einsamkeit darstellt.

Im Treppenhaus hat sich der süße Duft von Äpfeln eingenistet. Es macht froh, zu wissen, daß die Regale im Keller von Eingemachtem strotzen, von Gläsern voller Mirabellen, Kirschen und Pfirsiche. Die Hausfrauen stellen Fallen auf gegen Mäuse. Manchmal, es kann mitten in der Nacht sein, fangen die Möbel zu knarren an, und ein Käuzchen ruft vor dem Fenster.

Mit dem Bleistift die Konturen einer vergilbten Seekarte nachzeichnen. Den Kompaß anlegen, als hätte man den Plan, auf einem Segelschiff die Weltmeere zu befahren. Die Worte „Miami" oder „Guadeloupe" oder „Luxor" aussprechen. Von einer Insel träumen, auf die man bei einem Sturm verschlagen wird. Romane lesen über die Abenteuer der großen Entdecker. Kolumbus, Magalhäes, Amundsen.

Auf dem Tisch muß eine Schale mit Nüssen stehen. Eine Apfelsine schälen und sich das Land vorstellen, das sie geschickt hat: Espagna. In Kochbüchern blättern und ein Menü zusammenstellen für einen Abend mit Freunden. Paprikahuhn oder Wildschweinkeule mit Aspik.

Einen Brief schreiben an jemanden, den man vergessen wollte …

Auf den Feldern hausen jetzt die Krähen. Sie sind die Beherrscher der winterlichen Einöde. Ohne Krähen kämen die Maler mit ihren Winterlandschaften nicht zurecht. Niemand würde ihnen glauben, daß es auf ihren Bildern kalt sei. Krähen sind dunkle, geheimnisvolle Vögel, die einen Wanderer oder ein Fuhrwerk auf dem Lande begleiten.

In der Stadt erschrecken sie manchmal eine Frau die auf dem Balkon steht und in den Garten hinab schaut. „Krah, krah, krah" krächzen sie der Madame ins Ohr.

Es klingt spöttisch. Ja, das tut es.

Vom 6.11.1954