Schiffe versenken
Unsere Kinder haben ein altes Gesellschaftsspiel neu entdeckt. Es heißt „Schiffe versenken" und
sieht folgendermaßen aus: Jedes Kind braucht ein Blatt Papier mit Rechenmuster und einen Kugelschreiber. Dann
werden zwei Felder mit je zehnmal zehn Kästchen angelegt. Die Felder sind waagerecht mit Buchstaben und senkrecht
mit Ziffern markiert.
Ins Feld eins werden Schlachtschiffe, Kreuzer, Unterseeboote und Rettungsboote versteckt, und der Gegner im Spiel
muss durch Zuruf, etwa „4 D" oder „7 F", erraten, in welchem Kästchen sich ein Schiff versteckt hält. Feld eins ist
die See, gewissermaßen das Schlachtfeld. In Feld zwei werden Treffer und Fehlschüsse eingetragen. Feld zwei ist
die Kommandobrücke.
Hat der Gegner das Versteck erraten, gilt das Schiff als versenkt. Gewonnen hat selbstverständlich jenes Kind, das
im Feld seines Spielgefährten alle Schiffe auf den Meeresboden geschickt hat. Die Artillerie des modernen Krieges,
die ja das Planquadrat kennt, verniedlichte sich hier im Rechenheft des Tertianers zu einem Duell mit Kreuzchen aus
Tinte.
Natürlich wissen die Kinder nicht, was sie tun. Sie waren das ewige „Mensch ärgeredichnicht" leid. Sie wollten
etwas Neues, Aufregendes, Zeitgemäßes haben. Aber wer, frage ich, hat ihnen dieses Spiel „Schiffe versenken"
angeboten? War es ein Matrose? Ein Waffenfabrikant? Ein Herr aus dem Verteidigungsministerium?
Munter sitzen unsere ,Kinder da und versenken Schiffe. Gottlob ist es ihnen gleichgültig, welcher Nationalität die
Schiffe angehören, die sie mit ihrem Kugelschreiber torpedieren. Wahllos gehen auf dem Rechenpapier, das doch dem
erstrebenswerten Ziel mathematischer Gewitztheit dienen soll, Schlachtschiffe, Kreuzer, Unterseeboote und
Rettungsboote „in den Keller".
Aus dem Jargon jener Männer, die den Krieg überdauerten, haben sie Aus drücke wie „müder Dampfer", „dicker
Brocken", „Sondermeldung" und „Treffer" übernommen. Auch im Munde unserer Kinder sind Schiffe nicht einfach
Schiffe, sondern „Pötte". Und „Pötte" sind dazu da, versenkt zu werden. Es steckt so viel Tradition dahinter.
HansUlrich, der das Spiel gewonnen hat, hat nicht einmal die Ahnung, wie ein Schlachtschiff beschaffen ist und was
es gekostet hat. Es hat Vor allem Menschenleben gekostet. Ach, ich kenne Mütter, deren Söhne nicht zurückgekehrt
sind — sie lebten auf einem Schlachtschiff. Ich kenne Frauen, deren Männer als vermisst gemeldet wurden — sie taten
Dienst auf einem Kreuzer. Ich kenne Mädchen, deren Freunde keine Antwort geben — sie schlafen in einem
Unterseeboot. Ich kenne Kinder, deren Väter sich um gar nichts kümmern — sie wurden in einem Rettungsboot
ermordet.Und das spielen wir jetzt.
Von Bernhard Schulz
|