Und niemand weiß es

Nun ist die Zeit gekommen, da die Bauern ihren Kunden in der Stadt die Kartoffeln liefern. Wie immer bringen sie auch Äpfel mit, Calvillen und Borsdorfer Renetten, und die Straße hinauf weht dieser Duft, der an Weih­nachten erinnert. So lange dauert es nicht mehr, bis die himmli­schen Chöre anheben.

Die Bauern tragen grüne Lodenjacken, in deren Taschen noch die Ohrenschützer vom letzten Winter stecken. Die kennen sich aus mit dem Wetter. Wir in der Stadt haben nur den Kalender an der Wand, der uns auf Skatabend, Kaffee­kränzchen, Theaterabonnement, Ratenzahlung, Ferienbeginn, Tante Ellas Geburtstag und eben auch auf die Tatsache hinweist, dass wir November haben. Wer von uns weiß denn noch, wann die Rüben gezogen werden und der erste Frost über den Grünkohl kommt.

Mit den Kartoffeln und mit den Äpfeln verhält es sich noch genauso wie in meiner Kindheit, die ein halbes Jahrhun­dert zurückliegt. Damals kamen die Bauern mit Pferden in die Stadt gefahren, heute benutzen sie eine Zugmaschine. Als Kind hörte ich frühmorgens die Pferdehufe auf dem Pflaster klirren und die Räder knarzen, und über die Wände meiner Schlafstube huschte der Schein der Karbid­lampe, die unter der hinteren Achse hing.

Auch der Sturm ist geblieben. Des Nachts bricht der Sturm im Park die morschen Äste aus den Bäumen. Die Bänke sind einge­sammelt worden, die Bänke mit ihren Schriftzeichen und Schnitz­wunden. Die Goldfische sind ins Treibhaus

der städtischen Gärtnerei umge­zogen, nur das Schild »Füttern verboten« steht da noch. Die Springbrunnen wurden abge­deckt, die Statuen verschalt, und die Rosen des nächsten Sommers harren unter einer Decke Torf und Mist auf ihre Erweckung.

Torf wird im Moor gefördert, doch woher kommt der Mist? Zugma­schinen verpesten die Luft, aber sie machen keinen Mist. Wenn wir der Menschheit glauben dür­fen, mit der wir Umgang pflegen, dann besteht Mist in der Hauptsa­che aus dem Mangel an Geld.

Mist kann auch Kunst sein, die keine Kunst ist. Versprechen, die nicht gehalten werden. Liebe, die verraten wird, Bosheit, die Scha­den anrichtet. Hühnereier, die nach Fisch schmecken. Ein Chef, der nie verreist. Kaffe, der zu dünn ist. Eine Rechnung, die nicht aufgeht. Dies alles ist Mist.

Mist ist Blechschaden am Auto, Mieterhöhung, Lohn­verzicht, Einkommensteuerbe­scheid, Haarausfall, Mottenfraß, Laufmasche, Grippewetter, durchschaute Absicht, verpatzter Termin, tote Hose und leere Fla­sche.

Allein die Stadtgärtner. Gott segne sie, ehren den echten, wah­ren, unvergleichlichen Mist, den Mist aus Rinder- und Pferdestäl­len, den Mist aus Bauernhand, den Mist aller Miste. Nur dieser Mist schützt die Rosen unter dem Dung. Rosen, die so bezaubernde Namen haben wie Darling, Lady, Superbe, Noblesse und Queen.

Freilich, bis zum kommenden Juli, dem Monat der Rosen und des Urlaubs, ist es noch lange hin, und niemand weiß, was ihm bis dahin ins Haus steht

1969