Eines Mannes Weg  1973

Wenn Mariechen einen freien Tag hatte, nahm sie mich mit in ihr Elternhaus. Es lag eine Stunde vom Dorf entfernt zwischen Kuhweiden und Kartoffeläckern, und hinter den sieben Häusern begann der Wald mit seinen Beeren, Pilzen und Rehen.
Mariechens Vater arbeitete in einem Steinbruch als Schmied. Er musste das Handwerkszeug und die Kipploren und die Schienen in Ordnung halten. Er war ausgebildet in Erster Hilfe bei Unfällen, die bei Sprengungen eintreten konnten, und er musste zur Mittagszeit die Essnäpfe einsammeln und in ein Wasserbad stellen. Mariechens Vater war .im Steinbruch der Mann, der »den Kram zusammenhielt«, so nannten sie es. Er heilte und flickte, indes die anderen den Berg mit Stemmeisen und Pulver auseinanderbrachen. In der Hauptsache stellten sie Pflastersteine und Bordsteine und Treppenstufen her. Und einer war unter ihnen, der die Grabsteine meißelte und die Namen der Verstorbenen hineinschrieb: Geboren und Gestorben und Ruht in Gott. Ich habe, wenn ich mit Mariechen in dem kleinen weißgekälkten Fachwerkhaus übernachten durfte, am Leben dieses Mannes teilgenommen, der im Steinbruch »den Kram zusammenhielt«. Er war ein Hüne von Mann, der kaum den Mund auftat und anspruchslos dahinlebte.
Die Arbeit im Steinbruch lag nur in den harten Wintermonaten still, wenn Eis und Schnee den Berg bedeckten. An allen anderen Tagen stand Mariechens Vater um drei Uhr in der Nacht auf, schnitt Gras für die Kuh, fütterte das Schwein, sperrte die Hühner aus, schleppte Holz für den Küchenherd ins Haus, bewässerte die Pflanzen im Garten, schnitt Brot, goß Kaffee auf, aß bedächtig und machte sich auf den Weg in den Steinbruch.
Er musste länger als eine Stunde durch den Wald gehen, und der Pfad war schmal und steinig. Er sagte nichts. Er sagte dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre lang gar nichts. Ich bin nicht einmal sicher, dass er die Zeitung oder den Bauernkalender oder überhaupt ein Buch lesen wollte. Gedrucktes war Papperlapapp.
Aber er besaß - ein gutes Gedächtnis für alles, was sie ihm in der Schule beigebracht hatten. Elementares. Grundsätzliches. Unumstößliches. Unwiderrufliches. Die Richtung. Das Ziel. Die Lösung. Die Erlösung. Das, worauf es- ankommt. Das, was sich ohne Gerede und Papperlapapp versteht. Was jeder verstehen kann. Das Einmaleins. Die Buchstaben von A bis Z. Das Vaterunser. Die Zehn Gebote. Die Geduld mit dem Wetter. Das Mitleid mit den Armem, das Dengeln der Sense. Das Aussäen des Korns. Das Aussäen der Rüben, der Kartoffeln, der Kinder, der Grabsteine, des Grases, der Blumen, der Gebete.
Sonntags legte er die schwarzen Kleider an, die er zur Hochzeit angeschafft hatte, und zog mit den Nachbarn zur Kirche, und auf dem Weg ins Dorf betete er mit ihnen den Kreuzweg: Jesus wird unschuldig zum Tode verurteilt!
Er, Mariechens Vater, ein Hüne von Mann in schwarzen Kleidern und mit kahlgeschorenem Kopf, dieser Sensen Dengler und Holzspalter, dieser Rübenzieher und Kleintierhalter, dieser Schienenflicker und Eßnapfwarmmacher, er und kein anderer hatte jetzt das Wort. Er, der dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre lang schweigen wollte, erhob sich hier zum Vorbeter. Er, dessen Zunge wie Holz so unberedt war, schrie fast: »Fürwahr, er trägt unsere Krankheiten .. .« ».. . und ladet auf sich unsere Schmerzen«, antworteten sie.
Ich bin an seiner Seite ins Dorf zurückgekehrt, im Rücken dieser schwarzgekleideten Männer und Frauen, wir Kinder dazwischen, stolpernd und ängstlich, umschwirrt von Fliegen und Stechmücken, Worte wie Golgatha und Pontius Pilatus und Simon von Cyrene im Ohr, und wir wussten noch nicht, was es bedeutete: ein Kreuz zu tragen.
Mariechens Vater ist eines Morgens, als er zur Schmiede ging, vom Schlag getroffen worden. Er war über siebzig, ein gesegnetes Alter, wie sie sagten, aber er war versessen darauf gewesen, im Steinbruch den Kram zusammenzuhalten.
Sie trugen ihn auf jener Bahre heim, die in der Schmiede stand und die er selbst so oft im Laufschritt geholt hatte, um verletzte und vom Stein erschlagene Kameraden ins Haus zu bringen.