Betrachtung bei einem Klassenfoto

Damals war ich zehn Jahre alt, und die Jungens, mit denen ich zur Schule ging, waren wohl ebenfalls zehn. Wenn ich uns heute auf dem alten Foto betrachte - die Klasse ist auf Bänken in drei Reihen aufgebaut, und der Lehrer sitzt im Bratenrock und mit weißem Haar in der Mitte - dann haben wir alle miteinander Hosen an bis zur halben Wade, und das Material hieß Man-chester. Es war dicker, gerippter, brauner Stoff, der die Eigenschaft besaß, jeweils den Geruch des Hauses anzunehmen, in dem der Schüler wohnte. Wenn / jemand zu Hause Ziegen hatte, dann roch er auch nach Ziege.
Die Prozedur der fotografischen Aufnahme, der pyramidenförmige Aufbau der Schüler und ihr dümmliches Hinstarren auf die Linse, als sei dort tatsächlich ein Vögelchen verborgen, wiederholte sich in jedem Jahr, und immer dann, wenn die Klasse weiterrückte und der alte Lehrer sich verabschiedete. Links auf dem Bild hält der kleinste Schüler stolz eine Schiefertafel vor dem Bauch, auf der mit Kreide die Jahreszahl aufgemalt ist.
Den Anstrengungen zum Trotz, die im letzten Krieg unternommen wurden, um meine Habseligkeiten zu vernichten, ist mir ein Album aus meiner Schulzeit erhalten geblieben. Die Fotos sind ein wenig vergilbt, und der Einband ist stockfleckig, als hätte er im Regen gelegen. Da stehe ich also in der zweiten Reihe: mein Kopf sitzt über dem Haupt des Klassenlehrers, der auf einem Schemel sitzt. Seine Hände liegen ausgestreckt auf den Oberschenkeln, schneiden mit der Kniescheibe ab wie bei einem Rekruten, dem Instruktionen erteilt werden.
Auch an den Fotografen kann ich mich erinnern. Es war ein kleiner, buckliger Mann, Gott habe ihn selig. Er war so klein, dass er sich beim Fotografieren auf eine Fußbank stellte, die er auf dem Gepäckträger seines Fahrrades mitgeschleppt hatte, während er das fotografische Gerät auf der Brust trug, es hing ihm an einem Lederriemen um den Hals. Wenn die Leute im Dorf ein bedeutsames Ereignis festhalten wollten, wie es zum Beispiel Schulentlassung, Beförderung, Eheschließung oder Berufsjubiläum sind, dann sagten sie dem kleinen Mann Bescheid. Er kam, baute seine Kamera auf, zog ein schwarzes Tuch über den Kopf und knipste.
Aber vom Fotografieren allein konnte der kleine Mann nicht leben. Er betrieb einen Friseursalon für Herren, und auch beim Haare schneiden und Rasieren nahm er die Fußbank zu Hilfe, jedenfalls dann, wenn er es mit großen Männern zu tun hatte. Er hantierte das Hin- und Herschieben der Fußbank sehr geschickt, es fiel niemandem auf, dass er Schwierigkeiten hatte. Denn er besaß nur einen einzigen Rasiersessel, dessen Höhe sich nicht verändern ließ.
Der übrige Raum war ausgefüllt mit Regalen, auf denen Krimskrams lag der so das Jahr hindurch verlangt wurde: Christbaumschmuck, Narrenpritschen, Masken, Osterhasen aus Pappe mit einer grünen Kiepe auf den Rücken. Weiterhin künstliches Birkengrün, Lampions, Papierservietten, Glückwunskarten, Kondolenzbriefe, Heiligenbilder, Gesangbücher, Romanhefte, Broschüren mit dem Titel "Welcher Vogel ist das?" und 'Welcher Fisch ist das?". Es handelte sich um Saisonartikel und Gegenstände der Andenkenindustrie aus Gips, Papier und Alabaster, die sich in Jahrzehnten angesammelt hatten und dem Raum einen eigenen Geruch mitgaben, der den Duft von Rasierseife und Eau de Cologne übertönte.
Es war kein unangenehmer Geruch, eher ein Geruch, der erfreulich ist und Erinnerungen wachruft. Heute zum Beispiel, wo ich dieses Klassenfoto betrachte, auf dem ich einen Anzug aus Manchester anhabe und einen kahlgeschorenen Kopf vorzeige, erinnert mich dieser Geruch an jene aus Neuruppin stammenden Schnittbogen, die damals mein liebster Zeitvertreib waren. Aus den Neuruppiner Bogen schnitt ich mit der Schere pappene Fertigteile aus und klebte sie zu herrschaftlichen Villen zusammen, die mit zahlreichen Türmchen, Baikonen und Kaminen verziert waren, und aus den Kaminen ließ ich weiße Watte hervorquellen, was den Villen einen Hauch von Gemütlichkeit und von Betrieb in der Küche gab. Meine Knabenkammer in der elterlichen Mietwohnung war vollgestopft mit solchen Papiervillen, eine noch protziger als die andere, und vor einigen standen kleine Kerlchen, die Gärtner und Kutscher waren, und es ist wahr, dass ich es im wirklichen Leben zu keinem Haus gebracht haben, schon gar nicht zu einer Neuruppiner Villa.

Bernhard Schulz