Ich bin Patient (1964)

Mit meinem Knie ist etwas nicht in Ordnung. Ich habe Schmerzen, und der Hausarzt sagt, damit sei nicht zu spaßen und ich müsse einen Facharzt aufsuchen. Ein Termin wird vereinbart, und eines Nachmittags sitze ich mit Menschen, die alle miteinander schlimme Füße und Knie und dergleichen haben, im Wartezimmer eines Orthopäden. Ein Orthopäde ist ein Mann, der sich von Berufs wegen mit schlimmen Füßen, Knien und dergleichen befasst.
Ich erhalte eine Nummer, und zwar die Nummer 99, und das Wartezimmerfräulein sagt, dass ich meinen Blick auf eine Stelle über der Tür richten muss, wo eine Tafel hängt, und wenn die 99 aufleuchtet, dann bin ich an der Reihe. Es ist ein fortschrittliches Wartezimmer.
Ich habe jetzt Zeit, mir das Fräulein anzuschauen. Weil es nicht fein ist, das Fräulein nach seinem Namen zu fragen, nenne ich es Fräulein Kleiner Zeh, und ein bisschen sieht es auch so aus wie Fräulein Kleiner Zeh.
Der Patient mit der Nummer 98 sitzt neben mir. Er ist dreiundfünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, pensioniert und hat Wasser in den Gelenken, und der Schneider muss ihm weite Hosen anfertigen, damit er die Knie hineinbekommt. Er muss dreimal in der Woche zur Behandlung. "Die Mädchen, die dem Doktor helfen", sagt er, "sind alle sehr nett. Da brauchen Sie keine Bange zu haben."

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Nach einer Stunde leuchtet die 99 auf. Ich erhebe mich mit meinen Knie, aber das Fräulein Kleiner Zeh sagt: "Sie sind noch nicht dran. In der Zählmaschine ist etwas kaputt. Kommen Sie bitte, wenn die Hundert aufleuchtet."
Schön, sage ich zu mir, setz dich wieder hin, du bist kein Spielverderber, du hast das Warten schließlich gelernt. Wenn du ein kaputtes Knie hast, dann kann sich der Doktor ein kaputtes Zählmaschinchen leisten.
"Kaputt ist es immer nur bei Neunundneunzig", sagt das Fräulein, "da hoppelt das Zählwerk, hahaha!" Die Patienten lachen, und es ist auch zum Lachen. Ein Zählwerk, das hoppelt, hahaha.
Endlich erscheint die 100. Ich hoppele mit meinem Knie in den Nebenraum und werde von einem Fräulein, das wieder so ein Traumfräulein ist und dem ich sofort den Namen Fräulein Großer Zeh gebe, in die Kartei aufgenommen. Name, Geburtsdatum, Wohnort, Nationalität, Arbeitgeber, Krankenkasse. Lauter Bürokratisches.

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"Nehmen Sie Platz auf diesem Stuhl", befiehlt Fräulein Großer Zeh, "ich werde Sie aufrufen. Welche Nummer haben Sie?"
„Neunundneunzig", antworte ich.
"Stimmt nicht", sagt das Fräulein streng, "Sie haben Hundert. Das Zählwerk hoppelt bei Neunundneunzig - hat man Ihnen das nicht gesagt?" „, Jawohl", sage ich, "das Fräulein hat es mir gesagt, entschuldigen Sie bitte." Fräulein Kleiner Zeh, Fräulein Großer Zeh, und wer kommt gleich noch daher? Da muss man höllisch aufpassen, dass man es mit niemanden verdirbt. Immerhin bin ich dem Doktor ein paar Meter näher gerückt, und wie es einen so ergeht im Wartezimmer: das Knie tut fast überhaupt nicht mehr weh.
Jetzt tritt aus dem Sprechzimmer ein weiteres Fräulein und sagt: "Bitte Nummer Eins!" Von Nummer Hundert ist überhaupt keine Rede, ich bin hier völlig unbekannt. Das Zählwerk hoppelt nicht nur, es betrügt offensichtlich. An meinem Knie vorbei schiebt eine junge Mutter fünf Kinder ins Sprechzimmer, die Einlagen bekommen sollen, weil sie Senkfüße haben. Das letzte Kind, ein dreijähriges Mädchen, streckt mir die Zunge heraus. Dieses Mädchen wird es weit bringen im Leben.
Es muss sich bei dieser Praxis um einen Arzt handeln, der adrette Mädchen sammelt und in blütenweiße Kittel steckt, um in den Herzen seiner Patienten neuen Lebensmut wachzurufen. Ich folge seiner Anregung und richte mir einen Harem ein aus medizinisch-technischen Angestellten. Fräulein Kleiner Zeh und Fräulein Großer Zeh kenne ich schon. Hinzu kommen Fräulein Senkfuß, Fräulein Spreizfuß, Fräulein Fußknöchel und Miss Kniescheibe. Miss Kniescheibe ist mein Typ. Wenn es nachher darum geht, mir Holzschrauben ins Knie zu ziehen, dann soll sie es tun.
Aber zur Untersuchung kommt es nicht mehr. Die Sprechzeit ist abgelaufen, der Doktor wird zum Abendessen erwartet. An mir vorbei eiern die fünf Senkfußkinder. Das dreijährige Mädchen feixt lebenstüchtig; es weiß, was hier gespielt wird.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie morgen wiederkommen?" fragt Fräulein Kleiner Zeh. "Ich gebe Ihnen die Nummer Zwei, dann sind Sie sofort dran." Das sagt sie richtig schelmisch, das Fräulein Kleiner Zeh, und wer kommt da nicht gerne wieder?

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