Nichts als ein Käfer

Noch ragen die meisten Bäume mit kahlem Geäst in den Himmel, aber manchmal sind schon Stunden da, in denen die Sonne aus dem Gewölk purzelt und zarte Schattenmuster auf die Erde zeichnet. Dann belebt sich die Straße. Von allen Seiten eilen Kinder herbei, und junge Mütter sind da, die zum erst ein mal ihr Neugeborenes ausfahren. Es sind blaue Stunden, in denen nichts Arges ge­schehen darf. Alle Gefahren scheinen für eine Weile beseitigt zu sein. Alle Verhängnisse sind aufgehoben. Das Schicksal lächelt.
Mit einem Schlage ist alles wie verwandelt. Nichts ist mehr grau und hoffnungslos, und dabei schreiben wir doch erst April. Eine Drossel flötet im Garten, die Spatzen schilpen, und ein Huhn gackert. Ein Huhn gackert mitten in der Stadt. Niemand sieht das Huhn. Niemand weiß, wer sich hier Hühner leistet. Aber plötzlich ist die Illusion einer sommer­lichen Mittagsstunde in den Spaziergängern erwacht.
Sie knöpfen den Mantel auf und nehmen den Hut ab. Sie lächeln einen Gruß an die
Sonne, an den Frühling, an die Hoffnung. Und dann die Luft ...
Die Luft schmeckt nach Erde und sonnenwarmem Gemäuer. Sie schmeckt nach den Früchten, die auf dem Markt feilgeboten werden, schmeckt nach den Hyazinthen auf der Fensterbank eines Cafés, schmeckt nach dem Dunst der Brauereipferde, die hier eben Bierfässer angeschleppt haben, schmeckt nach Benzin und Arbeitskleidung, nach dem Geruch von Herd­stellen und Fabriken.
In dieser von Sonnenstrahlen erwärmten Mittags­stunde tönen die Geräusche heller denn zu jeder an­deren Zeit. Eine Fahrradklingel läutet, ein Hufschlag klirrt, ein junges Mädchen lacht über einen Scherz. Jemand nimmt eine Laute von der Wand und zupft eine Saite an. Ruhe strömt aus diesem Bild, Hoff­nung auf Frieden und Behaglichkeit.
Auf einer Baustelle verzehren Maurer ihr Mittags­brot. Sie hocken auf gekalkten Brettern im Kreise um einen Mann, der ein Marienkäferchen auf dem Handrücken sitzen hat. Das kleine braunrote Insekt wandert den langen, starken rissigen Finger entlang bis zur Nagelkuppe. Der Mann hält den Finger ganz still, damit das Käferchen, das winzige Marienkäferchen nicht unge­duldig wird. Nein, es fliegt nicht davon. Es fühlt sich wohl auf der atmenden Menschenhaut, die für das zarte Wesen doch wie bebende Erde sein muss.
Dort angekommen, wo der Nagel beginnt, macht es kehrt und klettert den Weg zurück bis zur Hand­wurzel — eine richtige Tagesreise für ein so kurz­lebiges Geschöpf.
Es ist anzunehmen, dass der Mann im Krieg ge­wesen ist. Jedenfalls sieht er nicht aus wie einer, den das Schicksal vergessen hat. Ich stelle mir vor, dass er eine Feldhaubitze oder die Abwurfvorrich­tung eines Bombenflugzeuges bedienen musste. Er hat Städte und Dörfer angegriffen, und er hat viel­leicht sogar Menschen getötet. Aber jetzt denkt er nur daran, das Leben dieses Frühlingsboten zu schützen.
Er wird seinen Kindern davon erzählen, heute Abend, wenn er in der Dunkelheit heimkommt; denn er ist glücklich über das Vertrauen, das ihm ein Marienkäferchen geschenkt hat. Ueberlegt doch mal, der Käfer hat die Hand eines Menschen erwählt, um sich ein wenig auszuruhen vom Brummen und Flügelschlagen.

Bernhard Schulz