Der Hahn im Kaffeehaus

In ein Cafe, das in den Nachmittagsstunden hauptsächlich von älteren Damen besucht wird, tritt ein junger Mann ein. Die älteren Damen sehen ihm an, dass er hier fremd ist und dass er sich unbehaglich fühlt. In der rechten Hand trägt er einen würfelförmigen Karton, der mit Kordel umschnürt und ringsum mit Luftlöchern versehen ist. Der junge Mann geht an den zierlichen Tischen vorbei, an denen die älteren Damen sitzen, findet einen Platz und stellt den Karton auf den teppichbelegten Fußboden zwischen seine Stiefel. So, und jetzt bitte eine Flasche Bier und Zigaretten. Da steht der Karton mit den Luftlöchern, und die Gäste ringsum vermuten, dass der junge Mann Tauben, Kaninchen oder Welpen befördert, vielleicht sogar eine Katze. Natürlich hat der Geschäftsführer keine Vorsorge getroffen, um zu verhindern, dass Gäste mit lebendem Vieh das Kaffeehaus betreten. Wie sollte er auch? Man kann doch nicht gut eine Tafel aufhängen mit dem Text, dass Tauben, Kaninchen, Welpen oder gar Katzen nicht mithineindürfen.

Der junge Mann ist ein ungewöhnlicher Fall, eine nicht mitberechnete und in keiner Weise vorauszusehende Störung. Kleinvieh im Lokal ist bisher nicht vorgekommen. Aber den jungen Mann kümmert es nicht mehr. Er hat einen Platz gefunden, er sitzt, er hat es geschafft, und das Fräulein im schwarzen Seidenkleid mit dem blütenweißen Häubchen im Haar und der blütenweißen Schleife hinten, bringt ihm eine Flasche Bier und eine Schachtel Zigaretten. ,,Bitte sehr, der Herr".

Das Fräulein gefällt ihm. Er schaut begeistert und schon ein wenig verliebt zu, wie das Fräulein anmutig hin und her schwebt, Getränke aufträgt und Geschirr abräumt, Feuer anbietet und Geld herausgibt. Bitte sehr, danke schön, jawohl, sofort, gerne. Er sieht und hört dies alles zum ersten Mal in seinem Leben. Er ist nicht der Typ, der ins Cafe geht . . .

In diesem Augenblick fängt unter dem Tisch, in dem durchlöcherten Karton zwischen seinen Stiefeln, der Hahn zu krähen an. Der Hahn hat bis jetzt geschwiegen. Er hat sich nicht gemuckt in seinem Gehäuse. Aber nun verkündet er seine Anwesenheit. Er tut es mit Zorn, das hört man. Es ist eine Trompete, ein gewaltiger Ton, Urschrei eines stolzen Vogels aus dunklem Verlies. Kampfruf der gedemütigten Kreatur.

Der Hahn, der Zuchthahn, der Star unter den Gockeln, hat endlich den Kragen voll davon, in einem Pappkarton zu hocken und nicht zu wissen, wo's lang geht. Er richtet sich auf, spreizt die hornige Kralle, rauscht mit den Federn und schmettert zu den Löchern 'raus, was in der Kehle sitzt. Dem jungen Mann vom Lande schießt die Röte ins Gesicht. Er fühlt sich blamiert. Es überkommt ihn arg, dass er hier derjenige ist, der einen verrückten Hahn hat, und am schlimmsten ist, dass er sich vor dem anmutigen Fräulein schämt, das hinten die blütenweiße Schleife trägt. Er versucht, dem Hahn gut zuzureden, und während er oben zahlt, tritt er unten den Karton mit Füßen. ,,Halt den Schnabel!"

Das macht die Sache nur noch peinlicher. Der Hahn denkt nicht daran, aufzugeben und zu kuschen. Er kräht, als ob nun endlich der Morgen der Freiheit angebrochen sei. Unter Kikerikigeschmetter und dem verlegenen Gelächter der Gäste stürmt der Bursche durchs Lokal, verheddert sich in der Drehtür, die es daheim nicht gibt, stößt an Metall und Glas, schimpft auf die Stadt, in der sich keiner auskennt, und ist draußen. Gott sei Dank!

Er wird niemals wieder ein Kaffeehaus betreten, jedenfalls nicht mit einem Hahn, und das ist bedauerlich, denn die älteren Damen hat es nicht gestört, einen Hahn zu hören. Sie wurden daran erinnert, dass es die Hühner und die Hähne und das Leben auf dem Lande gibt. Sie spürten - und das ist nicht zuviel gesagt - den Atem wehen, den Atem der Schöpfung.

Aufbruch 1984