Die Kapelle im Berg

Allein des Friedens wegen, der dort herrschte, verlebte ich mehrere Jahre hindurch, mal im Sommer, mal im Winter, ein paar Urlaubstage auf einem kleinen Kärtner Hof. Der Bauer besaß weder elektrisches Licht noch Telefon oder gar Fernsehen, und als Großstädter bildete ich mir ein, mindestens drei Lichtjahre von allem, was in der Welt geschah, entfernt zu sein. Die Mahlzeiten waren einfach, der Wein sauer, aber die Leute rührten mich durch ihre Einfalt und Güte. Ich fühlte mich trotz des Mangels an neuzeitlicher Unterhaltung unbeschreiblich wohl in dem hochgelegenen Haus.

Auf meinen Wanderungen hatte ich im Berg, wie man dort sagt, an einer Tanne einen Richtungsweiser mit folgender Angabe entdeckt: „Jausenstation Almrausch 2 Std." Es war ein schmaler Pfad, der dort von der Straße abzweigte und ziemlich steil ins Gebirge hinaufführte. Nun pflegte ich meine Wirtsleute nach den Zielen zu fragen, die ich anstrebte; denn das Gebirge war für einen unerfahrenen Großstädter nicht ungefährlich. Steinschlag und Wetterausbrüche hatten schon manchem Gast den Aufenthalt verdorben.

Almrausch", antwortete die Bäuerin, „gehen Sie um Gottes willen nicht dort hinauf, jedenfalls nicht in die Stuben. Es sind keine guten Menschen." Dabei schlug sie voller Entsetzen das Kreuzzeichen. „Jesus. Maria und Josef", murmelte sie und weiterhin eine Menge Zeugs, davon ich nicht eine Silbe verstand.

Aber nun war ich neugierig geworden. Ich war einem Geheimnis auf der Spur, dessen Aufdeckung mich reizte, Auch im Tal erhielt ich auf die Frage, ob es sich lohne, zur Jausenstation Almrausch hinaufzusteigen, nur ausweichende Antworten. „Tun Sie das lieber nicht", sagte die junge Frau hinter dem Postschalter, mit der ich eines Telegramms wegen zu tun hatte.

Niemand rückte mit der Wahrheit heraus. Ein Verbrechen krimineller Art war es nicht dies jedenfalls gaben sie zu.

Es musste sich um ein Vergehen handeln, das nicht strafbar war und das sich vielleicht sogar der Sühne entzog. Die Menschen dort oben lebten in einem gewissen Verruf, den Abgeschiedenheit und Rückständigkeit verschuldet haben mochten.

Ich wollte den Grund erfahren. Eines Morgens begann ich, ohne den Wirtsleuten meinen Plan mitzuteilen, den Aufstieg. Es war ein sehr schöner, abwechslungsreicher und später auch bequemer Weg durch Latschenwald und Almwiesen, mit erregendem Blick in tiefe Täler und auf schneebedeckte Berge. Ich begegnete, und es war das erste Mal in meinem Leben, einem Fuchs. Ein Mensch war nirgendwo zu erblicken, nicht einmal seine Spuren im Schnee,

Ich brauchte fast drei Stunden, um den Hof zu erreichen. Ich ließ mich müde auf der Ofenbank nieder, den Rücken an warme Kacheln gelehnt, und bestellte heiße Milch mit Honig. „Wollen Sie mit uns essen?" fragte die Bäuerin, eine etwa sechzigjährige, gesund und tatkräftig aussehende Frau. Am Fenster saß im Licht der Mittagssonne die Großmutter mit einem Strickstrumpf, eine Tochter war mit Kochen beschäftigt, und überall wuschelten Dackel und Katzen umher. Es war ein Idyll, das mir von Stahlstichen in altväterlichen Familienzeitschriften vertraut war. Die Frauen hatten ihre Haare zu einer Krone um den Kopf geschlungen. Es roch gut nach Tannäpfeln und Geräuchertem.

Nach dem Essen sagte die Frau, sie müsse jetzt in den Wald gehen, um ihrem Mann die Jause zu bringen ob ich mitkommen wolle? Ich weiß heute, dass sie mich mit Überlegung dazu aufgefordert hat; denn unterwegs erzählte sie die Geschichte ihres Mannes wie jemand, der froh ist, endlich nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende einer schwer drückenden Sorge loszuwerden.

Als damals die Nachricht kam", sagte die Frau, „dass unser ältester Sohn in Russland gefallen sei, hat mein Mann nach dem Herrgott geschossen. Er ist mit dem Jagdgewehr in die Kapelle eingedrungen und hat das Kruzifix zerstört. Oben im Berg ist eine Wallfahrtskapelle aus Pestzeiten her  die zum Hof gehört und von den Almrauschbauern instand gehalten werden muss, ein alter Schwur", fügte sie hinzu.

Das war es also. Der Bauer hatte auf den Herrgott geschossen. Zorn? Verzweiflung? Trotz? Umnachtung? Er hatte das Kruzifix zerstört, und deshalb waren ihm die Nachbarn gram.

Als wir nach beschwerlicher Kletterei an der Kapelle ankamen, sah ich, dass ein Mann dabei war, den Dachstuhl des kleinen Kirchleins zu erneuern. Er hatte rings umher Bauholz und Schindeln liegen, die Wände waren gekalkt, die Bänke gestrichen und das Kruzifix erneuert worden»

Wir setzten uns zu dritt auf die Bank. Der Bauer aß, die Frau streichelte ihrem Mann verstohlen die Hand, und gesprochen haben wir miteinander nur über die Sonne, die durch die bunten, bleigefassten Scheiben auf den Fußboden tropfte.

18.8.68