Ich werde ein Vorbild

Es ist so, dass der Mensch ein Vor­bild braucht. Männer über vierzig zum Beispiel kommen ohne Vorbild über­haupt nicht zurecht. Als meine Frau mich kennenlernte, hatte sie sofort her­aus, dass ich ohne Vorbild hilflos sein würde. Sie schaute sich unter meinen Bekannten um und suchte nach einer Persönlichkeit, die stark und überlegen genug war, mir als Leitstern zu dienen. Ein Mann, der anderen Männern Vorbild sein soll, hat naturgemäß keine leichte Aufgabe. Er darf nicht trinken. Er darf nicht rauchen. Er darf nicht vergessen, dienstags und freitags den Mülleimer auf die Straße zu set­zen. Aber das ist nur das Geringste. Ein vorbildlicher Mann spart das ganze Jahr hindurch für Weihnachten, bringt abends Schokolade mit und schenkt sonnabends Rosen. Das Vorbild führt einmal monatlich seine Gattin vor ein Schaufenster und sagt: „Gefällt dir das Kleid? Ich möchte gern, dass du es trägst. Hier sind zweihundert Mark, bitte nachzählen!" Anschließend führt das Vorbild die Gattin in ein Restau­rant und bestellt gefüllte Schinken­röllchen und Obstsalat.

Es ist erstaunlich, dass die Welt von Vorbildern geradezu wimmelt. Auf hun­dert Männer kommen neunundneunzig Männer, die das ganze Jahr hindurch für das Weihnachtsfest Rücklagen ma­chen und niemals für sich selbst Zi­garren und dergleichen kaufen. Sie ver­dienen gut, setzen sich überall durch und sind völlig selbstlos. Sie können Auto fahren und Ski laufen. Sie bauen Häuser mit Ölheizung und haben groß­artige Einfälle, wie man bessere Filme dreht oder Aktiengesellschaften grün­det. Außerdem sind sie auf gar keinen Fall langweilig.

Anfangs war Gustav mein Vorbild. Diesen Gustav bekam ich jeden Morgen aufs Butterbrot. Gegen Gustav war nichts einzuwenden. Ich weiß zum Bei­spiel, daß er Pfeife rauchte und Äpfel im Schreibtisch versteckt hielt. Aber er hatte nun einmal das Pech, dem Ideal eines Familienvaters zu entsprechen. Es war eine scheußliche Situation für ihn„Hat Gustav" auch gesagt", hörte ich täglich siebenmal. Eines Tages zog Gu­stav weg und begann in einer anderen Stadt ein neues Leben voller Tabaks­ qualm.

Kein Mann hält es jahrelang durch, Vorbild zu sein. Einmal bricht auch die höchste Vollkommenheit entzwei, wenn sie allzu heftig strapaziert wird. Deshalb wechselten die mir aufgezwun­genen Vorbilder gelegentlich. Auf Gu­stav folgte jemand, der Karl Friedrich Theodor Rebert hieß. Schon der erle­senen Auswahl von Vornamen hört man an, dass er Männern, die einfach bloß Bernhard heißen, zum Verhängnis werden kann.

Neuerdings ist es ein gewisser Adrian, der mir zu schaffen macht. Dieser Adrian ist ein Ausbund von Ehemann. Er weiß nicht nur, wie man durchge­brannte Sicherungen repariert, er spült sogar Geschirr ab, ohne sich bitten zu lassen. Herr Adrian kann mit dem Staubsauger umgehen, er kann Knöpfe annähen, Gemüse einwecken und Brat­kartoffeln machen. Ich vermag nichts von alledem. Es ist ein Kreuz mit die­sem Alleskönner. In unserer Stadt hat es keine Frau so gut wie Frau Adrian. Herr Adrian müsste man sein, dann wäre alles viel leichter. Gestern traf ich Herrn Adrian beim Wirt an der Ecke. Er saß auf einem Barschemel und hatte sich etwas Scharfes mixen lassen. „Ich bin Ihnen böse," sagte er.
„Sprechen Sie sich ruhig aus", ent­gegnete ich. Ich war entschlossen, mit Herrn Adrian zu streiten, wenn er auf den Gedanken käme, vorbildlich zu sein. Aber es kam mit Herrn Adrian alles ganz anders. Es stellte sich heraus, dass Herr Adrian es sich nicht länger gefallen lassen wollte, mich als Vor­bild hinzunehmen. ..Sie dämliches Vor­bild", sagte er, „Geschirr abwaschen und Knöpfe annähen, das sieht Ihnen ähnlich."
„Wer hat behauptet, dass ich ab­wasche?" fragte ich.
„Ihre Frau!" rief er.
Jetzt weiß ich Bescheid. Vorbilder werden erfunden!

Von Bernhard Schulz
Kieler Nachrichten, 3 Jan.1961