Wohlgerüche durchziehen den Raum

. . . und jeder freut sich im Büro auf die Kaffeepause

19 Mai 1960

Kaffee ist für viele Menschen ein Lebenselixier. Kaffee ist kein Laster, sondern eine Notwendigkeit. Ein Tässchen Kaffee vermag die Not unseres Alltags in Glanz zu verwandeln. Daher rührt es auch, dass der Kaffee seine Genießer vor allem in den Büros hat. Büros sind nicht dazu geschaffen, im Herzen Frohsinn zu wecken. Sie erheitern selbst dann nicht, wenn sie tapeziert sind und mit Kalenderbildchen protzen; ihnen bleibt immer Traurigkeit anhaften. Was hilft es? Der moderne Mensch muss sein Leben am Schreibtisch verbringen.
Zum Glück für den schreibenden, zeichnenden, planenden und ordnenden Männerverstand gibt es die Sekretärinnen, die von Hause aus den Sinn für Kaffee mitbringen. Die Damen von der Taste wissen, wo es zur rechten Zeit an Ermunterung mangelt. In ihren Schreibtischen gibt es Geheimfächer (offiziell ist ja die „Entnahme von elektrischer Kraft für Kochzwecke" verboten), die die Utensilien der verschleierten Kaffeezubereitung enthalten: Topf, Tauchsieder, Porzellankanne, Tasse, Zuckerdose und Kaffeebüchse. Die Sekretärin kennt den schwachen Punkt der Kollegen. Ohne Aufforderung fängt zur rettenden Minute das Wasser zu brodeln an...Wohlgeruch durchzieht den Raum. Die Atmosphäre ist mit einem Schlag verwandelt. Wie süß das Kaffeelöffelchen klingelt beim Umrühren — die reine Musik! Dabei ist es nicht einmal ein silberner Löffel, sondern einer aus Aluminium, ein Arme-Leute-Zucker- Löffelchen, das niemanden zum Stehlen verlockt. An der Tasse fehlt der Henkel. Macht nichts; Schönheitsfehler gehören zum guten Ton der Büroselbsthilfe.
Darf ich bitten? Da steht also die Tasse, der braune Trunk, das kleine Vergnügen. Für eine Weile ruht die Tinte, rastet der Zeichenstift, schweigt die Taste. In das brasilianische Aroma mischt sich der Duft einer Zigarette. Die kleine nachmittägliche Kaffeepause, geheiligtes Recht aller Büromenschen fördert die Arbeitskraft und beflügelt den Geist. Die Kollegen versammeln sich um den Kaffeetopf, die henkellose Tasse in der Hand, die Zigarette lässig im Mundwinkel und den neuesten Witz auf den Lippen. Aber der Witze Reiser kommt nicht mehr dazu, die Pointe zu formulieren; denn in diesem Augenblick betritt der Chef das Zimmer. Der Chef erscheint selten, aber immer dann, wenn gerade Kaffee getrunken wird. Deshalb haben alle Chefs von ihren Angestellten die Meinung, dass sie ununterbrochen Kaffee trinken und sich dabei Witze erzählen. Es gibt nichts Peinlicheres, als mitten im Witz verstummen zu müssen. Jeder Angestellte weiß, dass die Firma keine Witze verlangt, sondern solide Arbeit. Die kleine Kaffeepause ist weder verboten noch erlaubt; sie wird geduldet. Deshalb lächelt der Chef jovial: „Lassen Sie sich nicht stören, Meier. Neuer Witz, was? Schießen Sie los!"
Jetzt hilft kein bitte – bitte und kein Lächeln mehr. Der Faden ist abgerissen. Die Pointe ist wurmstichig. Herr Meier schießt zwar seinen Witz ab, aber Witz und Kaffee zünden nicht mehr. Die kleine Kaffeepause ist zu Ende.

Bernhard Schulz