Trauerrede von Hans Otto Baumgarten* am 31.03.2003

Liebe Gerda, liebe Angehörige und Freunde unseres sehr verehrten lieben Bernhard Schulz, von dem wir in dieser Stunde Abschied nehmen müssen!

Es sei mir erlaubt, wie ich denke, stellvertretend für den großen Kreis der Freunde und Bewunderer Bernhards einige Worte des Abschieds zu sagen.

Seit Jahrzehnten sind meine Frau Ingrid und ich wie viele von uns mit Bernhard und Familie freundschaftlich und familiär verbunden, wie viele schöne Feste haben wir gemeinsam gefeiert, fast an jedem Geburtstag kamen wir zusammen, und auch auf dem Gebiet der Arbeit und öffentlichen Tätigkeit haben sich unsere Wege gekreuzt.

In jungen Jahren schrieb Bernhard über meine Arbeit am Theater Kritiken, später durfte ich auf mehreren  Vortragsabenden aus seinen Werken lesen und rezitieren.

Erfüllt mit vielen guten Erinnerungen nehmen wir in Trauer und Wehmut Abschied von Bernhard, einem so liebenswürdigen, bescheidenen, in der Zurückgezogenheit so fleißigen, unermüdlich tätigen Menschen, von einem guten Freund. Wir nehmen Abschied, so möchte ich sagen, von dem, was sterblich an ihm ist, aber sein liebenswürdiges Wesen, sein Geist und sein umfangreiches Werk, das er uns geschenkt und hinterlassen hat, bleiben unter uns lebendig.

Lassen Sie mich bitte ein paar Worte über meinen letzten Besuch bei Bernhard – noch in der alten Wohnung- sagen. Zaghaft öffnete er die Tür und ließ mich dann ein, freundlich mit seiner etwas heiseren und doch schön klingenden Stimme grüßend. „Wie geht es dir, Bernhard?“ fragte ich. „Schlecht“ war die Antwort, „meine Beine tun’s nicht mehr; ich kann nicht mehr laufen“. Und dann ging er doch zügig mir voran in die Küche. Wir setzten uns einander gegenüber. Sichtlich belebte er sich, ja freudig und ein wenig stolz berichtete er mir, dass ein Verlag aus Bergisch-Gladbach ihn gebeten habe, Geschichten aus seinem Geburtsort und Heimatdorf zusammen zu stellen, und das habe er getan. Das kleine Buch sei schon vielfach verkauft worden, sei ein kleiner Bucherfolg in der dortigen Gegend geworden. „Hast du es noch nicht?“ Als ich verneinte, holte er es, schrieb eine Widmung hinein und schenkte es mir. Derart beschenkt ging ich nach Hause, setzte mich vor mein Lesegerät, schlug das Büchlein auf, „Wintergeschichten“ und studierte die Inhaltsangabe.

Und prompt tauchte eine Reihe alter Bekannter aus Bernhards Dorf- und Heimatgeschichten vor mir auf: ein so buntes Kaleidoskop liebenswerter, schrulliger, kauziger Typen, die Bernhard schon eh und je so prägnant und einprägsam mit wenigen Strichen einmalig und unvergesslich gezeichnet hat.

Lassen Sie mich nur einige auch in Ihre Erinnerung zurückrufen:
Ruprecht mit dem Holzbein,
Meister Zwirn,
Die alte Grete, im Stechschritt einherspazierend
Die strickenden Hirten
Johann und die Dörfchens,

und nicht zu vergessen: der Vater, Bankangestellter mit dem Stehkragen, die mildtätige Mutter und die Großmutter unseres Ich-Erzählers, eben Bernhards, der in seinem Heimatdorf Lindlar und im Bergischen Land ein unerschöpfliches Reservoir für seine Erzählungen, seine Sammlungen von Geschichten gefunden hat.

Damals auf dem Dorf
Blaue Stunde
Nachmittag mit langsamer Erwärmung
Bei Kerzenlicht erzählt
Abend mit Zimtsternen

dies sind Titel seiner Anthologien, die uns allen in Erinnerung bleiben. „Poesie der Feldwege“ heißt charakteristisch eine Sammlung.

Das ist es, was Bernhard gelungen ist, Poesie auch abseits der gängigen Straßen zu entdecken: im alltäglichen Lebensvollzug der Leute, vorzugsweise im Leben von sonst leicht übersehenen, sonst wenig beachteten Menschen, ganz im Sinne Eichendorffs:
Schläft ein Lied in allen Dingen und Menschen.

Sicher, Bernhard schaut auch voller Sehnsucht und Melancholie zurück in die sogenannte gute alte Zeit, wo noch Werte galten, die heute mehr und mehr verloren gehen. Aber der Vorwurf, er gestalte nur eine heile Welt, trifft ihn nicht. Eindringlich hat er z.B. in „Die Krähen von Maklaki“, in „Stiefel für Maruschka“ und in „Nach Auschwitz ins Wochenende“ die Schrecken des letzten Weltkrieges, die er selbst ja aus eigener Erfahrung kannte, und den Terror des Nazi-Regimes dargestellt. Und auch die Heimaterzählungen sind historisch fundiert; immer wieder werden die Folgen des 1. Weltkrieges, Hungerjahre und Inflation transparent. Aber die Menschen bewähren sich gerade in der Not, durch Hilfsbereitschaft und nachbarliche Solidarität, in Glaube, Hoffnung und Liebe.

Es lohnt sich darüber nachzudenken, warum es gerade die Advents- und Weihnachtsgeschichten sind, die Bernhard immer wieder angezogen und zur Gestaltung herausgefordert haben.

Ich möchte diesen notgedrungen kurzen Überblick über Bernhards dichterisches Werk mit zwei Beispielen seiner Erzählkunst schließen, die uns gleichzeitig zur jetzigen Abschiedsstunde zurückführen können.

Da ist die Geschichte von der alten Grete, die mit fast militärischem Stechschritt, krumm gebeugt von der Last der Jahre, skelettartig mit knochigen Händen durch das Dorf läuft, fast wie eine böse, aber doch harmlose Hexe, und wenn ihr jemand begegnet, bleibt sie stehen und schreit ihn an: „Das Himmelreich ist nahe“. Sie ist wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf, heißt es. Hin und wieder tritt sie auch in die lärmerfüllte Schmiede und schreit:  „Das Himmelreich ist nahe“. Der Schmied schenkt ihr dann immer wieder ein Hufeisen. Sie sammelt sie und schenkt sie den Obdachlosen, die sich dafür Tabak kaufen können.

Die Mutter unseres Ich-Erzählers bringt vor Weihnachten Geschenkpakete ins Obdachlosenheim, und der kleine Bernhard darf sie begleiten. Die alte Grete legt ihre gichtige Hand auf den Kopf des Kleinen, streicht ihm durchs Haar und spricht die Mutter an „Das ist ein braver Junge. Der geht ins Himmelreich ein“.

Und da ist die Geschichte von dem alten Pensionär mit seinen weihnachtlichen Einkaufstüten, den der Erzähler etwas spöttisch, aber auch neidisch in seinem Ruhestand beobachtet. Die beiden kommen ins Gespräch, und der Alte erzählt, dass seinem Vater im Krieg in Russland beide Füße erfroren seien; sie mussten amputiert werden. An vielen Heiligen Abenden habe er seinen Vater auf einem eigens dafür konstruierten Wagen an den Waldrand ziehen müssen. Der Vater habe zum Himmel geschaut und jedes Mal einen Stern erblickt. Wir spüren, wir ahnen als Leser, worin dieser Vater in aller Daseinsnot und Beschwernis, Trost und Hilfe gefunden hat.

Lieber Bernhard!
So bleibt auch für uns Deine Dichtung lebendig und wirksam, so wie Du selbst in Deiner unermüdlichen Schaffenskraft Trost und Lebenserfüllung gefunden hast.

Zwei Gedichte von Dichtern, die Du sehr verehrt und geliebt hast, Rilke und Eichendorff, mögen zum Abschied das Gesagte unterstreichen:

Rainer Maria Rilke: Aus den „Sonetten an Orpheus“ (1.Teil, Nr.19):

Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten
über den Wandel und Gang
weiter und freier
währt noch dein Vorgesang
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.

Joseph von Eichendorff:

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.
O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Lass ausruhn mich von Lust und Not,
Bis daß das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

*Hans Otto Baumgarten 1921-2013 war mit ganzem Herzen und ganzer Seele ein Mann des Theaters.Als Ensemblemitglied von 1950 bis 1955 beeindruckte er als Hamlet und Faust im wiedereröffneten Theater am Domhof in Osnabrück. Ab den 60er Jahren engagierte er sich zusammen mit seiner Frau Ingrid über Jahrzehnte imTheaterverein. So viel aktive Zeitgenossenschaft bis zum letzten Lebensaugenblick ist eine Seltenheit. Der glänzende Rhetoriker und Literaturkenner rezitierte noch sterbenskrank Rilke-Gedichte und hörte Werke seiner Lieblingsautoren, etwa Robert Musils.