Inselsommer

Unterwegs gibt es eine Menge Stroh gedeckte Bauernhäuser zu sehen, und hie und da ein Storchennest. Die Störche ste­hen auf einem Bein und schauen nach Fröschen aus. Über jeden Storch, auch über die jungen Störche, wird Buch geführt. Von Jahr zu Jahr kommen weniger Störche zu­rück. Die Autos vermehren sich. Die Tiere sterben aus. So ist das.
Die holsteinischen Bauern sind gerade bei der Heuernte. Die Kühe werden sich vielleicht noch einige Jahrtausende halten; denn Butter ist immer noch ein gutes Geschäft, wie man liest. In Husum steigen zwei be­leibte Männer ins Abteil, sie sprechen über Rinderpreise und Kraftfutter. In Husum hat Theodor Storm gelebt. Pole Poppenspäler. Der Schimmelreiter. Aquis submersus. Kein Klang der aufgeregten Zeit drang noch in diese Einsamkeit: das hat er gedich­tet, der Theodor Storm aus Husum. Manch­mal sieht man vom Züge aus Bienenstöcke in der Heide stehen und irgendein Alter sitzt auf einer Bank und schmaucht sein Pfeifchen.
Der Atem des Meeres weht über das tiefe grüne Land. Neue Gehöfte entstehen in den Marschen, eins sieht wie das andere aus, zementgrau. viereckig, poesielos. Hinter den Deichen weiden Rinderherden, und die Schafe tragen himbeerrote Farbtupfer auf dem Rücken. Ein Hubschrauber schaufelt sich über den Deich. Das ist der Schimmelreiter unserer Zeit.
Dann gleißt Wasser am Horizont auf. Die Eisenbahn fährt geradenwegs ins Meer hinaus, ins Wattenmeer, in eine Mondlandschaft voll silbriger Priele und algenbesäter Bänke, und manche Priele sehen von weitem aus wie Wiesen mit einer sonderbaren Art dicker weißer Blumen. Aber es sind keine Blumen, sondern Möven, die auf dem Wasser schaukeln. Zwölf Kilometer lang ist dieser Eisenbahndamm, der das holsteinische Festland mit der alten Frieseninsel Sylt verbindet. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, so ins Meer hinauszugleiten, ins Wasser hinein, ins Schlick hinein, in Stille hinein. Der Zug hält mitten auf dem Damm, und jetzt hört man, wie still es hier ist. Nur der Wind kräuselt das Wasser und singt ein bisschen, wie ein Muschelhorn singt, zart und ganz unirdisch.
Wir halten also, wir müssen auf den Gegenzug warten, und da fällt mir ein Freund ein, der hier draußen auf Sylt gelebt hat. Es war ein Mann namens Slaboom, und er behauptete, dass sein Urgroßvater „ein alter Brite" gewesen sei. Damals nannten sie die Seeräuber Briten. Wir lagen in Russland im Erdbunker, und es war eine großartige Sache, erzählen zu hören, dass es Flibustier gegeben hat, Männer mit roten Tüchern um den Kopf und mit nackten Füßen Enterhaken schwingende und an Tauen hangelnde Burschen, die auf Segelschiffen zuhause waren und die Weltmeere nach Beute absuchten. Und niemand weiß, wo und wann sie gestorben sind. Sie wurden an einer Rahe aufgehängt, weil sie Seeräuber waren, oder von einem Hai gebissen, wenn ihr Schiff gekentert war. Ich erinnere mich genau, dass Slaboom erzählte, das Haus seiner Väter sei aus lauter Strandgut erbaut gewesen. Aus Masten und Planken, und der Kleiderschrank sei ehemals die Kajüte eines holländischen Kapitäns gewesen. Sicher hatten diese Slabooms auch eine heidnische Gallionsfigur im Hausgiebel hängen ...
Da lag diese Insel nun, von der wir in Russland geträumt hatten. Sylt, die Insel der Piraten und Walfänger, die Heimat der Kapitäne und Weltfahrer, die Wiege der Hochseefischer und Handelsmatrosen. Ich dachte an pelzige Strohdächer und gekachelte Wohnstuben, an präpariertes Seegetier im Gebälk und an Grog, der steif war wie Nudelsuppe. Langsam schob sich der Zug aus dem Watt hinaus in Schafwiesen und Kartoffel­äcker. Auf dem Gegengleis fuhr ein Auto­zug zum Festland zurück. In den Wagen saßen lauter braungebrannte Leute, die alle miteinander traurig waren, weil der Ur­laub jetzt für sie zu Ende war ...
Dann war ich in Westerland. Ich lief sofort zum Strand um das Meer zu sehen, die Nordsee, die Mordsee, die hier auf Sylt ihren aufregendsten und stärksten Wellen­ schlag hat. Das Meer leckte mit weißen Schaumzungen den Sand hinauf, mächtig rollte die Brandung, es war der Atem des Erdballs, der Rhythmus der Gezeiten, Kommen und Gehen, Geburt und Tod, Ebbe und Flut.
Die Sonne legte dunkelrote Bahnen ins Wasser Gewölk zog auf, Möwen kreisch­ten über der Brandung, und Einsamkeit suchte die Küste heim. In solchen Stunden muss man mit bloßen Füßen über den Strand laufen. Der feinkörnige Sand gibt dem Druck der Schritte nach, das Wasser schmeichelt, der Mensch ist allein mit sich und seinen Füßen. Hier spürt er plötzlich, was Füße sind. Füße sind Flügel.
Die Menschen von heute wollen keine Füße mehr. Sie wollen Autos, und in ihren Autos rasen sie vom Hotel zum Strand, vom Strand zum Fünf Uhr Tee, vom Fünf Uhr Tee zum Tennisplatz, vom Tennisplatz zur Spielbank, von der Spielbank zum Nachtlokal, vom Nachtlokal zum Hotel, und jetzt geht gerade die Sonne auf ...
Die Menschen ohne Füße schlafen bis zum Mittag und wenn sie endlich aufge­standen sind, müssen sie zahlreiche Tele­fongespräche führen und Kinokarten be­stellen und sich für eine Modenschau ver­abreden und dergleichen mehr. Das Auto steht immer startbereit neben dem Bett. In solch einem Hotel geht nur der Hausdiener zu Fuß, jener Mann, der die Schuhe ein­sammelt und die Koffer trägt. Vor dem Mittagessen muss er von jedem Auto den Sand herunter waschen.
Es ist ein Jammer; denn Sylt ist nur ge­dacht für Fußgänger. Nirgendwo ist die Luft so rein wie hier, so von salzigen Win­den gefiltert wie auf dieser Insel ohne Fa­brikschlote. Nicht einmal die Auspuffrohre kommen gegen die reine Luft an. Die Insel beherbergt eine Schule für Düsenflieger, sie gehört der NATO. Die Herren Piloten trai­nieren fleißig. Mit ohrenbetäubendem Lärm donnern sie mit Überschallgeschwindigkeit über die Strandkörbe und Sandburgen hin­weg. Die Fußgänger ­ es gibt noch einige beschimpfen die Autofahrer, die Autofah­rer beschimpfen die Piloten, und die Pilo­ten beschimpfen die Politiker, weil sie immer noch keine Chance haben für einen frisch­fröhlichen Einsatz. Es ist ein Kreis­lauf gegenseitiger Empörung.
Aber weder die Flugzeuge der Soldaten noch die Roadster der Neureichen könnenden Sylter Inselsommer zerstören. Die Na­tur ist beständiger und widerstandsfähiger als Menschenwerk, und es gibt auf der Insel immer noch Romantik genug, die der zersetzenden Betriebsamkeit unserer Tage standhält.
Da ist vor allem das alte Friesendorf Keitum mit seinen Rohrdächern und Haus­gärten, mit dem urväterlichen Hausrat, den breitausladenden Linden und Kastanien und den gekälkten Wällen aus Findlingssteinen, die jedes Friesenhaus umgeben. In diesen Häusern herrscht noch, der alte Geist jener blauäugigen, blonden Hünen, die hoch im Norden dem Wal an den Speck gingen. Hier in Keitum wird keine Miß Sylt erwählt wie in Westerland, Wenning­stedt und Kampen.
Stark ist hier der Inselsommer mit dem Fischgeruch des Wattenmeeres, mit seinen brodelnden Gewittern und sturmdurch­peitschten Nächten, mit glühender Hitze und sanftem Wind, mit Brandungsgeheul und Möwengekreisch, mit bescheidenem Gartenglück und dickem Hausfrieden.

Über den Hindenburgdamm nach Sylt / Ein Reisebericht
Von Bernhard Schulz