Die Hütejungen auf den Weiden

Der Oktober ist die Zeit der Hütejungen. Wenn die Wolken tief über dem Lande hängen und an den Nachmittagen Regen in dünnen Schnüren dahin treibt, ist ihre Stunde gekom­men. Sie lieben diese Stunde nicht sonderlich, aber sie wissen, dass es keinen Ausweg gibt. Morgens gehen sie zur Schule und lernen die Geschichte vom Hirtenbuben David der den Riesen Goliath erschlug. Das gefällt ihnen. Außerdem kommen in der Bibel mehr Hirten als Riesen vor, und deshalb wohl finden sie sich mit ihrer Rolle ab, obgleich sie lieber daheim geblieben und Eisenbahn gespielt hätten. David hat die Eisenbahn nicht kennengelernt, aber dafür ist er später König geworden. Die Kinder unserer Zeit werden keine Könige mehr; sie richten den Ablauf ihrer Tage nach dem Gepfeife der Lokomotiven in den Tälern ringsum.

Die Hütejungen stehen da und frieren. Es ist kalt. Den Sack, der triefend nass ist, haben sie wie eine Kapuze über den Kopf gestülpt. Bisweilen tasten sie. mit erfahrener Gebärde über den wogenden Leib einer Kuh und spüren die lebendige Wärme des Tieres.

Sie werden vor der Zeit alt, die Hütejungen. Sie haben schrecklich viel Zeit nachzudenken, • auf den Weiden da draußen, im Regen und die vielen Gedanken, von denen sie heimgesucht werden, machen sie altklug. Sie wissen über manches besser Bescheid als wir, die wir über den Asphalt traben und den Regen hassen. Die ­ Hütejungen empfinden den Regen als Zustand vor dem Heimtreiben, wenn die Lichter in den Wohnungen der Menschen rundum aufspringen und die Stalltüren behäbig knarren. Er ist der Zustand vor dem Melken, dem Brot des Abends, dem Pfeifenrauch und der süßen Wärme am Ofenherd die vom Duft der Bratäpfel im Back­ofen wohlig gesättigt ist.

Wenn sie dort kauern, müssen sie auch jetzt noch schweigen. Sie lächeln über sich selbst und über ihren Wunsch, mit der Einsamkeit, der Hütejungeneinsamkeit, fertig zu werden. Bevor sie schlafen gehen, denken sie an die im Regen dunkelnden Weiden zurück.

Nordwestdeutsche Rundschau Osnabrück
24.Okt. 1947