Für Eisenhower waren die Deutschen Bestien

Vom Hungern und Sterben ehemaliger Soldaten der Wehrmacht in amerikanischen und französischen Lagern / Von Karl-Heinz Janßen

Er stand plötzlich vor der Tür, der Vermißte. Kaum wiederzuerkennen, mit tiefen Augenhöhlen, die abgewetzten Uniformkleider schlottern um die Glieder. Der Heimkehrer, im Dorf bekannt als bärenstarker Mann, 1 80 groß, wog keine hundert Pfund mehr. Daß er überhaupt noch lebte, hatte er den Engländern zu verdanken, die ihn im Juni 1945 aus dem amerikanischen Massencamp Rheinberg übernommen hatten, einem der berüchtigten Hungerlager auf den Rheinwiesen und feldern, wo die Amerikaner nach der Kapitulation der deutschen Ruhrarmee Hunderttausende von Kriegsgefangenen auf freiem Feld hinter Stacheldraht eingepfercht hatten. Was unser Heimkehrer zu berichten hatte, kehrt in Tausenden anderer Berichte wieder: Tagelang gab es nichts zu essen, allenfalls mal einen Teelöffel Milchpulver. Nach Wasser mußten die vom Durst Gequälten stundenlang anstehen. Gegen Frost und Wind, Schnee und Regen schützten sich die Männer notdürftig, indem sie sich Erdlöcher buddelten, in denen sie sich nachts, eng umschlungen, aneinander zu wärmen suchten. Wer einen Pappdeckel als Unterlage hatte, konnte froh sein. Täglich fielen Leute vor Erschöpfung um, andere wurden in zusammenstürzenden Höhlen verschüttet, manche starben an Ruhr und Typhus, weil sie aus Pfützen getrunken hatten, oder an Lungenentzündung "Nie hätte ich den Siegern eine solche barbarische Art der KriegsgefangenenBehandlung zugetraut", notierte sich ein Feldwebel.

Warum haben wir in all den Jahrzehnten nach dem Kriege so viele Bücher und auch Filme über das Leiden der deutschen Gefangenen in der Sowjetunion kennengelernt, aber kaum etwas über das Kriegsverbrechen der Amerikaner an den ihnen anvertrauten Gefangenen erfahren, ein Verbrechen, dessen Ausmaß offensichtlich bisher von deutschen Historikern noch gar nicht erkannt worden ist. Aufgerührt hat diese unschönen Erinnerungen das Buch eines kanadischen Journalisten, das in Amerika als Bestseller gehandelt wird, wohl weil es den Mythos des Kriegshelden und späteren Präsidenten Dwight D. Eisenhower ins Wanken bringt:

Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945 1946; Ullstein Verlag, FrankfurtBerlin 1989; 302 S, 39 80 DM Der Titel des kanadischen Originals heißt schlicht "Other Losses". So lautete eine Rubrik in den wöchentlichen amerikanischen Armeestatistiken. Ihren Sinn konnte Bacque erst nach langwierigen Recherchen entschlüsseln, als er einem amerikanischen Obersten begegnete, der im Obersten Alliierten Hauptquartier (SHAEF) deutsche Angelegenheiten bearbeitet hatte. Dieser Oberst Philip Lauben brach das Schweigen: "Sonstige Verluste? Das bedeutet Todesfälle und Fälle von Flucht " Aber geflohen sind weniger als 0 1 Prozent, und wer durch den Stacheldraht kletterte, riskierte, gnadenlos von den Wachposten niedergeschossen zu werden.

Bacque, studierter Historiker, deckte ein Geheimnis auf, das die amerikanische Armee bereits im Frühjahr 1945 unter der Decke zu halten wußte: das — wenn nicht von höchsten Stellen gewollte, so doch geduldete — Massensterben in amerikanischen und französischen Lagern. Er wagte sich unbefangen an das Thema, denn anders als der große Bruder hatten Kanadier und Engländer nach der deutschen Kapitulation ihre Gefangenen relativ gut behandelt. Doch viele Lagerakten waren bereits vernichtet worden, und in den wenigen noch vorhandenen Dokumenten stellten Bacque und seine Mitarbeiterinnen Zahlenmanipulationen, Verfälschungen, Halbwahrheiten oder Euphemismen sonder Zahl fest.

Unter Deutschen pflegte man bislang eine von der Sieger- und Schutzmacht Amerika übernommene Lesart: Die Alliierten waren bei Kriegsende einfach überfordert, als sie viele Millionen ehemaliger Soldaten der Wehrmacht und anderer Organisationen zu versorgen hatten, in einem Land mit zerstörten Dörfern und Städten und mit zusammengebrochener Verwaltung, ohne genügend Transportmittel und Proviantvorräte. Bacque räumt mit dieser Beschwichtigungslegende auf: "Zelte, Lebensmittel, Stacheldraht und Medikamente waren knapp in den Lagern — nicht, weil es der Armee an Vorräten mangelte, sondern weil den Bitten um Lieferungen nicht nachgegangen wurde Am 22. April 1945 hatte die amerikanische Armee in Europa Nahrungsrationen für fünfzig Tage auf Lager, mit denen sie fünf Millionen Menschen mit 4000 Kalorien pro Tag hätte ernähren können; es mußten aber nur 2 6 Millionen US Soldaten versorgt werden. Außerdem waren den Siegern vollgefüllte deutsche Depots in die Hände gefallen. Das Rote Kreuz verfügte über dreizehn Millionen Lebensmittelpakete, von denen jedes einen Menschen einen Monat mit 500 Kalorien pro Tag hätte ernähren können.

Bacque kommt angesichts dieses Mißverhältnisses — dort eine siegreiche Armee im Überfluß, hier Millionen hungernder Gefangener — zu dem Schluß, daß dieses Massenelend gewollt war. Hier waltete der Geist des Morgenthauplans, hier wurde an den Deutschen die Rache für Dachau und Buchenwald vollzogen.

Aus Churchills Memoiren und den alliierten Dokumenteneditionen kennen wir längst die makabren Szenen bei den Gipfelkonferenzen in Teheran und Jalta, als Stalin und Roosevelt auf die Erschießung von 50 000 deutschen Offizieren anstoßen wollten — angeblich nur zum Scherz! In diesem Buch nun finden wir Zitate des amerikanischen Oberkommandierenden in Afrika und Europa, die jenen Aussagen in nichts nachstehen. Schon im Mai 1943, als 300 000 deutsche Soldaten in Tunis kapituliert hatten und die amerikanischen Truppen ihrer nicht sofort Herr werden konnten, schrieb General Eisenhower an den Generalstabschef und späteren Außenminister George Marshall: "Ein Jammer, daß wir nicht mehr umgebracht haben In mehreren Ausgaben der Eisenhower Dokumente wurde, wie Bacque feststellte, dieses Postskriptum unterschlagen.

Eisenhowers Haß gegen die Deutschen — für ihn lauter Bestien — steigerte sich von Monat zu Monat. Im Sommer 1944, nach der Invasion in der Normandie, war er dafür, die 3500 deutschen Generalstäbler auszurotten und alle Naziführer — vom Bürgermeister an — zu erschießen. Am Ende schämte er sich seines deutschen Namens. In den fünfziger Jahren kostete es den damaligen NatoOberbefehlshaber große Überwindung, den deutschen Soldaten, die man so dringend für die Wiederaufrüstung brauchte, eine Ehrenerklärung auszustellen.

Bacque hält — neben einer Reihe mitwissender hoher Offiziere — General Eisenhower für den Hauptschuldigen am Massensterben der deutschen Kriegsgefangenen. Eisenhower hatte im März 1945 den Vereinigten Stabschefs in Washington empfohlen, wegen der bei einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu erwartenden Probleme eine neue Klasse von Gefangenen einzuführen, die "Entwaffneten Feindlichen Streitkräfte" (Disarmed Enemy Forces — DEF).

Nach der Genfer Konvention hatte jeder Gefangene Anspruch auf die gleiche Essensration wie ein Soldat der feindlichen Armee. Als der deutsche Staat zu existieren aufhörte, gingen aber die Deutschen zeitweilig des Schutzes der Genfer Konvention verlustig, denn Amerika entließ die anstelle des Deutschen Reiches als Schutzmacht eingesetzte Schweiz aus ihren Verpflichtungen. Eisenhower ließ sogar den Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes den Zutritt zu den Lagern verbieten.

Die Stabschefs genehmigten am 26. April 1945 Eisenhowers DEF Plan, untersagten ihm jedoch eine öffentliche Erklärung zu der Statusänderung. Sie müssen gewußt haben, warum. Bacque nennt den DEF Status "tödlich". Ihr Gewissen beschwichtigten die Generäle mit der Tatsache, daß die alliierten Militärregierungen die Rationen für die Zivilbevölkerung auf täglich 1500 Kalorien festlegen wollten. Nur — viele Gefangene erhielten manchmal noch weniger als die KZ Häftlinge in der Endphase des Todeslagers Belsen. Und oft bis zu sieben Tagen keinen einzigen Bissen! Eisenhower war es auch, der anordnete, daß den Gefangenen in den riesigen, provisorischen Stacheldrahtgehegen entlang des Rheins weder Obdach noch irgendein anderer Komfort zugebilligt werden dürfe, nicht einmal Post. So waren denn Hunderttausende auf engstem Raum zusammengepfercht — zuweilen fanden sie keinen Platz zum Hinlegen — und allen Unbilden des damals durchweg regnerischen, naßkalten Wetters ausgesetzt. Die häufigsten Todesursachen waren — das geht aus Berichten amerikanischer Militärärzte hervor — keineswegs Unterernährung, Flüssigkeitsmangel oder Erschöpfung, sondern vornan standen Durchfall und Ruhr (eine Kategorie), Herzkrankheit und Lungenentzündung, also unzweideutige Folgen der Witterungsverhältnisse, der Überfüllung in den Lagern und des Fehlens sanitärer Einrichtungen.

Einen weiteren Verstoß gegen die Genfer Konvention begingen die Amerikaner, als sie zwischen 700 000 und 800 000 Kriegsgefangene (die Zahlen in den Akten differieren) an Frankreich auslieferten. Zwar stellten sie dabei die Bedingung, daß die Franzosen diese Menschen nach den Vorschriften der Konvention behandelten. Bacque zitiert aus einem erschütternden Bericht eines französischen Hauptmanns, der 32 000 Menschen aus einem amerikanischen Lager bei Dietersheim übernehmen sollte, darunter auch Alte, Frauen und Kinder. Der morastige Boden war "bevölkert mit lebenden Skeletten". Insgesamt 166 000 Gefangene in diesem Gebiet wurden von den Franzosen "in beklagenswertestem Zustand" aufgefunden. Der Hauptmann bezeichnete die Schreckensstätten als "Lager des langsamen Todes". Zehntausende von alten Männern, Frauen, Kindern, Todkranken und Krüppeln wurden sofort entlassen. Die anderen Gefangenen kamen nach Frankreich, doch waren viele wegen der langen Unterernährung so arbeitsunfähig, daß sich das Internationale Rote Kreuz um die Mißstände kümmerte.

Die Darstellungen Bacques sind sicherlich für viele Amerikaner eine Neuigkeit. Was ihm jedoch von Experten und auch Historikern vorgehalten wird, ist sein Umgang mit den Todesstatistiken. In der mehrbändigen wissenschaftlichen "Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges", Anfang der siebziger Jahre im Auftrag der Bundesregierung herausgegeben, hat Kurt Böhme — zwar mit Vorbehalten und zum Teil nach Schätzungen — festgestellt, in sechs Rheinwiesenlagern seien von 557 000 Gefangenen nur 3053 (amerikanische Angaben) oder 4537 (deutsche Angaben) gestorben, also eine Todesquote von 0 6 bis 0 8 Prozent, will sagen: Anders als in der Sowjetunion habe es im Westen kein Massensterben der Gefangenen gegeben. Bacque arbeitet mit ganz anderen Zahlen; er wirft Böhme vor, sich zu sehr auf amerikanische Quellen gestützt zu haben. Nun gibt es bis heute in Deutschland noch keine hundertprozentige Aufklärung über das Schicksal von circa 1 748 Millionen verschollener Angehöriger der Wehrmacht (keine offizielle Zahl!). Im Jahre 1950 hatte man sich in Bonn — damals noch ohne vollständige Daten — auf eine Faustregel geeinigt: nahezu 1 3 Millionen Vermißte im Osten, 100 000 im Westen. Der Suchdienst des Roten Kreuzes hat inzwischen ein Drittel der Vermißtenfälle in der Wehrmacht aufgeklärt; in 1 086 Millionen Fällen vermutet man, daß die Soldaten tot sind.

Bacque hat die Deutschen und Amerikaner im Verdacht, sie hätten während des Kalten Krieges absichtlich, um von den Vorgängen in den westlichen Lagern abzulenken, das Vermißtenproblem den Russen zugeschoben. Er kommt auf viel höhere Todesraten als Böhme, dem er falsche Berechnungen unterstellt. Der kanadische Autor hat freilich nur Bruchstücke von Akten, aus denen er dann die Zahl der Toten hochrechnet.

In seinem Vorwort räumt er selber ein, viele Gelehrte würden Fehler in seinem Buch finden. Er sagt auch bescheiden, wegen der von ihm aufgedeckten Verschleierungen und Manipulationen in den Akten — angeblich geht es um eine "fehlende Million" — werde "die Zahl der Toten wahrscheinlich immer umstritten sein". Aber dann begeht er eben doch den Leichtsinn, sich aufgrund seiner eigenen Hochrechnungen, die er in einem breiten Anhang erläutert und belegt, festzulegen: Die Zahl der Opfer liege "zweifellos" bei mehr als 800 000, "beinahe mit Sicherheit" bei mehr als 900 000 und "durchaus wahrscheinlich" bei mehr als einer Million!

Die Diskrepanz zwischen ein paar Zehntausenden, von denen deutsche Sachkenner sprechen, und einer Million Toter ist so ungeheuerlich, daß sich jetzt die Historiker in der Bundesrepublik aufgerufen fühlen sollten, dieses Dickicht von echten und falschen Zahlen, von Schätzungen, Annahmen und konkreten Angaben zu durchforsten. Nachzudenken gilt es auch über den Vorwurf, den der Kanadier gegen die Deutschen erhebt: Sie hätten in einem merkwürdigen Verdrängungsprozeß den amerikanischen Freunden schon im vornhinein verziehen, ohne daß diese überhaupt angeklagt waren. Man habe nur zu gern die kleinen Zahlen der Amerikaner übernommen, obwohl man insgeheim an eine große Zahl glaubte "Nicht imstande zu sein, die Wahrheit über die amerikanischen Greuel zu sagen, ist ein gespenstisches Echo der Aussage, man habe von den Lagern der Nazis nichts gewußt "

Wem das Zahlenspiel zu kompliziert ist, der halte sich an die Schilderungen unermeßlichen Leides, das in diesem Falle zufällig von Amerikanern und Franzosen verübt wurde. Bacque will seine Leser aufrütteln zu erkennen, wozu der Mensch in seinem Haß oder in seiner Gleichgültigkeit fähig ist.