Bilanz und Grünkohl

Wir erleben jetzt die Zeit der kleinen Bilanzen. Die Sparvereine, Kegelclubs, Vogelliebhaber, Aquarienfreunde, Kaninchenzüchter, Wettgemeinschaften und Skatspieler, sie alle schütten ihre Kasse aus und stellen einander die Frage: Wohin mit dem Geld, wie legen wir das Sümmchen an, wo steckt die beste aller Möglichkeiten?

Die beste aller Möglichkeiten steckt im Grünkohl. Der Kassensturz fördert den Verzehr von Grünkohl durch den Heißhunger beitragszahlender Mitglieder. Grünkohl ist eine westfälische, niedersächsische, oldenburgische, bremische Spezialität. Die Oldenburger geben dem Grünkohl sogar den Rang einer Palme, sie essen keinen Grünkohl, sie essen Palme. Vom ersten Prost an bis in den März hinein ist Grünkohl der Schlager auf den Speisekarten.

Manchenorts wird ein Grünkohlkönig gewählt, dem die Aufgabe zufällt, eine Rede über den Grünkohl zu halten und dafür zu sorgen, dass dieser Speise die gebührende Anerkennung zuteilwird. Außer Grünkohl haben wir Norddeutschen historische Rathäuser, prachtvolle Fachwerkbauten und hehre Dome, aber Grünkohl haben wir eben auch, und das wird in der Rede hervorgehoben»

Grünkohl ist ein wohlschmeckendes Essen und wert, königlich hofiert zu werden. Der geistvollste Mann unter uns ist gerade edel genug, zur Würde eines Grünkohlkönigs erhoben zu werden, obwohl dieser Würde etwas Clownisches anhaftet. Jedoch verliert sich das Clownische nach dem ersten Trinkspruch; denn eine weitere lobenswerte Eigenschaft der beliebten Speise ist der Durst, den er erzeugt. Zum Grünkohl werden Korn und Bier gereicht, und wehe dem, der kneift.

Die Rezepte zur Herstellung der Mahlzeit werden von Berufsköchen und Hausfrauen streng gehütet, handelt es sich doch um altüberlieferte, mit dem Gänsekiel auf Büttenpapier abgefasste Dokumente. Wer Grünkohl zünftig zubereiten will, muss schwer auf Löffel sein. Er muss Schwein und Rind, Wild und Geflügel, Mettwurst und Geräuchertes, Bregenwurst und Bauchspeck bereithalten, und zum Schluss kommt es auf die Zutaten an, die nicht verraten werden. Empor durch Grünkohl, heißt es in der Küche,

Der Grünkohl eine Nutzpflanze, die zur Familie der Kreuzblütler gehört wächst auf dem Lande, wo man dem Frost Muße lässt, sich über die Nutzpflanze herzumachen. Was den übrigen Pflanzen zum Schaden ausschlägt, gerät dem Grünkohl zum Triumph. Er muss vom Reif bedeckt sein, und beim Abstrippen soll das krausgefranste Gemüse vor Härte krachen,

Grünkohl riecht beim Kochen wie Kohl eben riecht, aber dieser Geruch ist einer jener Düfte, die den Grünkohlkönig bei seiner Rede umwabern. Es ist ein Duft wie Holzfeuer, Gartenerde, Baumrinde, Karnickelstall, Pferdegeschirr, Lodenrock und Apfelbord.

Bernhard Schulz