Haben wir das vergessen? 24. Dezember (1946)

Haben wir vergessen, dass wir in Russland gewesen sind? Russland, das ist für uns immer noch der Krieg. Wenn wir Russland hören, hören wir das Feuer. Wenn wir Russland sehen – in den Zeitungen und auf Bildern ist Russland zu sehen - dann sehen wir Schnee.
Aber der Schnee ist nicht alles. Der Schnee war nicht allein Russland. Da waren rote Spuren im Schnee, die sich schwammig ausdehnten, wie auf Löschpapier. Da waren jene schwarzen Flecken, die von den Einschlägen der Artillerie herrührten und von Bomben. Brandmale der Schlacht. Der Krieg schrieb seine Sprache in den Schnee.
Es ist nicht so, dass wir etwas gegen Russland gehabt hätten. Wir hätten den Schnee liebgewinnen können. Auch die Menschen hätten wir liebgewinnen können und das Petroleumlicht in den Hütten und die Lehm Öfen mit ihrer guten Wärme. Vielleicht hätten uns sogar die Birken zugesagt mit der Zeit. Aber sie nahmen ja das Birkenholz, um Kreuze daraus zu machen für die Toten.
Am Heiligen Abend erreichten wir einen Ort, der Kotobitschi hieß. Ich habe nie begriffen, wer das war, der immer gleich den richtigen Namen wusste. Man vergisst nicht, wo man sich am Heiligen Abend aufgehalten hat.
Damals waren wir also in Kotobitschi. Es war ein dickverschneites Nest mit dreiunzwanzig Hütten und einer Kirche in der Mitte, aus der sie eine Traktorenwerkstatt gemacht hatten. Der Kompaniechef schenkte jedem von uns fünfzig Schuss Gewehrmunition. Nichts Grünes dran, bewahre. Auf dem Kalender stand „Weihnachten“.
Wir waren abgelöst worden. Die Front wummerte jetzt in unserem Rücken. Leuchtkugeln flirrten durch den schneegrauen Himmel. Aus den Hütten säulte gelblicher Rauch: verbranntes Holz aus den tiefen russischen Wäldern, durch die der Wolf strich.
Und es roch auch nach Holz. Bei großer Kälte gibt es nichts tröstlicheres als den Geruch von verbranntem Holz.
Die Tür öffnete sich. Unsere Augen waren noch blind von der Dunkelheit draußen. Dastehen und glotzen, das Gewehr im Anschlag. Woina* nix gutt, dachten sie jetzt da drinnen an ihrem breiten Lehmofen und den Ikonen in der Ecke und den gackernden Hühnern im Korb.
Seht die Madka mit dem Tuch um den Kopf und den bärtigen Muschick**! Die Kinder lagen auf dem Ofen und fürchteten sich. Im Kalender stand „Weihnachten“. Das hatten sie stehen lassen, kein General wusste warum. Es hätte besser nicht dagestanden; denn an diesem Abend waren wir nicht tapfer genug, um einen Krieg zu gewinnen.
Die Russen wussten nicht, dass Heiliger Abend war. Für die Leute von Kotobitschi kam Weihnachten erst im Januar. Aber der bärtige Mann setzte den Samowar in Gang, und die Frau reichte den fremden Soldaten Brot und Salz und heiße Kartoffeln. Im Ikonenwinkel glühte das Lämpchen. Woina nix gutt, sagte sie.
Der Korporal rückte eine Bank vor das Ofenloch, und da hockten wir nun und starrten in das flackernde Feuer, und länger als eine halbe Stunde würden sie uns hier nicht sitzen lassen, das wussten wir. Das Eis taute aus Nase und Augenbrauen. Die Lippen brannten in der Wärme. Die Füße schmerzten vom Frost. Im Schein des Petroleumslichts hatte der Russe einen Kopf wie ein Apostel. Er lächelte, als er uns den Tee in den Becher goss. Serafim, sagte er, ich heiße Serafim.
Es ist nicht wahr, dass wir dann „Stille Nacht“ gesungen haben. Niemand hat davon geredet, dass er daheim sein möchte und dass ihn dieser verdammte Krieg nichts angeht. Es stimmt nicht, dass irgendjemand gerührt war und dass der Korporal dem Muschick Familienfotos gezeigt hat.
Wir saßen da und atmeten Wärme und schlürften Tee und hörten den Samowar singen und das Holz knistern. Wir dachten an nichts. Eine halbe Stunde lang dachten wir an nichts. Weil Heiliger Abend war, hatten wir die Helme abgesetzt und die Gewehre gesichert.
Tapfer waren wir nicht, das ist wahr. Niemand hätte mit uns eine Schlacht gewinnen können. Nicht in dieser Nacht.

*Woina steht für „Krieg“ (Russisch: Война)
**Muschik, ein einfacher russischer Bauer im zaristischen Russland (Russisch:  мужик)