Kaffeepause

11.11.1964

Kaffee ist für viele Menschen eine Art Lebenselexier. Kaffee ist kein Laster, son­dern eine Notwendigkeit. Ein Tässchen Kaf­fee vermag die Not unseres Alltages flugs in Glanz zu verwandeln. Daher rührt es auch, dass der Kaffee besonders in den Büros seine Genießer hat. Nichts ist all­täglicher als ein Raum mit Schreibtischen und Aktenregalen.
Büros sind nicht dazu geschaffen, im Herzen Frohsinn zu erwecken. Selbst dann erheitern sie nicht, wenn sie tapeziert sind und mit Kalenderbildchen protzen — ih­nen bleibt immer Traurigkeit anhaften. Was hilft es uns? Der moderne Mensch muss sein Leben am Schreibtisch und am Zeichenbrett verbringen.
Zum Glück für den schreibenden, zeich­nenden, planenden und ordnenden Män­nerverstand gibt es die Sekretärinnen, die von Hause aus den Sinn fürs Kaffeetöpf- chen mitbringen. Die Damen von der Taste wissen, wo es zur rechten Zeit an Er­munterung mangelt. In ihren Schreibti­schen gibt es Geheimfächer (offiziell ist ja die „Entnahme von elektrischer Kraft für Kochzwecke" verboten), die die Utensilien der verschleierten Kaffeezubereitung ent­halten: Topf, Tauchsieder, Porzellankanne, Tasse, Zuckerdose und Kaffeebüchse. Die Sekretärin kennt den schwachen Punkt des werkenden Kollegen. Ohne Aufforderung fängt zur rettenden Minute das Wasser zu brodeln an ...
Wohlgeruch durchzieht den Raum. Die Atmosphäre ist mit einem Schlag wie ver­wandelt. Wie süß das Kaffeelöffelchen klingelt beim Umrühren — die reine Mu­sik. Dabei ist es nicht einmal ein silbernes Löffelchen, sondern eines aus Aluminium, ein schlechtes Armeleutezuckerlöffelchen, das niemanden zum Stehlen verlockt. An der Tasse fehlt der Henkel. Das macht nichts; Schönheitsfehler gehören zum gu­ten Ton der Büroselbsthilfe. Wie gesagt, dies alles vermag ein rüchlein Kaffeeduft.
Darf ich bitten? Da steht also die Tasse, der braune Trunk, das kleine unschuldige Vergnügen. Für eine glückliche Weile ruht die Tinte, rastet der Zeichenstift, schweigt die Taste. In das brasilianische Aroma mischt sich der Duft einer Zigarette. Die kleine nachmittägliche Kaffeepause, gehei­ligtes Recht aller Büromenschen, fördert die Arbeitskraft und beflügelt den Geist des Fortschritts.
Aber nicht nur der Geist, auch der Witz meldet sich an, zu dessen Erweckung Esprit ebenfalls erforderlich ist. Die Kollegen versammeln sich um den Kaffeetopf, die henkellose Tasse in der Hand, die Zigarette lässig auf der Unter­lippe und den neuesten Witz auf der Pfan­ne: „Mikosch tritt in einen Blumenladen und fragt..."
Der Witzereißer kommt nicht mehr dazu, zu sagen, was Mikosch gefragt hat; denn in diesem Augenblick betritt der Chef das Zimmer. Der Chef erscheint im Monat ein­mal, aber immer dann, wenn gerade Kaf­fee getrunken wird. Alle Chefs haben von ihren Angestellten die Meinung, dass sie ununterbrochen Kaffee trinken und sich Witze erzählen.
Es gibt nichts Peinlicheres, als mitten im Witz verstummen zu müssen. Jeder An­gestellte weiß, dass die Firma keine Witze verlangt, sondern solide Arbeit. Die kleine Kaffeepause ist weder verboten noch er­laubt, sie wird geduldet. Deshalb lächelt der Chef jovial: „Lassen Sie sich bitte nicht stören, Herr Meier. Neuer Witz, was? Schießen Sie los!"
Jetzt hilft kein Bittebitte und kein Lä­cheln mehr. Der Faden ist abgerissen. Die Pointe ist wurmstichig. Herr Meier schießt zwar seinen Witz ab, aber Witz und Kaffee zünden nicht mehr. Die kleine Pause ist zu Ende. Der Chef verabschiedet sich re­serviert, die Sekretärin spült die Tassen und an die Mattglasscheibe klopfen Regen­tropfen.

Bernhard Schulz