Das fremde Kind
Wir lernten damals, als unsere Kinder die
Volksschule besuchten, eine Menge andere Kinder kennen, und unter ihnen war eines Tages dieser Junge, den sie
Iwan nannten. Er hatte etwas Russisches an sich, das einem sofort ins Auge fiel, und wahrscheinlich waren es
die mongolisch geschlitzten Augen, die ihm den Namen Iwan eingebracht hatten. „Ich heiße Viktor Kalinowski".
sagte er, „und ich lebe bei meinen Großeltern." Es fiel uns auf, dass er das Tätigkeitswort "leben" gebrauchte,
statt "wohnen" zu sagen. Vielleicht lag es daran, dass es nach dem Krieg darauf angekommen war, überhaupt am
Leben zu sein. Später haben wir erfahren, dass die Großeltern Vertriebene waren, und dass sie sich in einem
Gartenhaus eingerichtet hatten, in einer dieser Schrebergartenkolonien den Bahndamm entlang. Dort lebten sie
und hofften auf bessere Verhältnisse, wie sie sagten.
Der Junge, den die Kinder Iwan nannten, kam zu uns
ins Haus. Er stand in der Küche und sagte sehr viel ernster als ein Junge in seinem Alter sein durfte: „Sie
erlauben, dass ich diesen Raum betrete? Ich danke Ihnen für Ihre Güte." Ich dachte, so gestelzt spricht
jemand, der in einer Tanzschule oder in einem Konsulat groß geworden ist. Er war ein seltsames Kerlchen mit
einer hohen Punktzahl an gutem Benehmen und gewählter Redeweise.
Wie alle Kinder in jenen Jahren trug Iwan
Kleider, die aus Militärtuch geschneidert waren oder aus irgend etwas, das mit dem Krieg zu tun hatte, und die
Stiefel waren ihm zwei Nummern zu groß. Was uns auffiel, waren seine blauen Lippen und eine kräftige Nase, die
uns an die Märchenfigur Zwerg Nase erinnerte. Er fror immer, sogar bei Temperaturen um zwanzig Grad, und er
hielt seinen Kopf mit einer Mütze bedeckt, wie sie die Kinder in Russland tragen. Es war eine Mütze aus braunem
Kunstleder mit gefütterten Ohrenklappen, die er unter dem Kinn mit einer Schnur zusammenbinden
konnte.
Sobald er die Wohnung betrat, nahm er die Mütze ab
und steckte sie in die Manteltasche oder unter den Pullover, wenn er keinen Mantel anhatte. Er war ein Junge,
der diese Art von Mütze tragen musste, und er war ewig in Angst, jemand könnte sie ihm wegnehmen und in einen
Baum werfen oder was.
Die Kinder, die in seiner Klasse saßen, achteten
ihn seiner Klugheit wegen. Er hatte in allen Fächern die besten Noten. Er war aufmerksamer, lernwilliger,
fleißiger als die anderen Schüler. Aber er war kein Streber, das durfte man ihm nicht nachsagen, und er musste
oft während des Unterrichts in der Ecke stehen, weil er vorgesagt hatte. An den Spielen, die Kinder treiben,
Himmel und Hölle und Räuber und Schanditz und Blindekuh, nahm er niemals teil, er war einfach nicht kindlich
genug, und das brachte ihn dazu, daheimzubleiben und Gedichte auswendig zu lernen.
Mit der Zeit wurde er der größte Auswendiglerner,
den diese Schule gesehen hatte. „Kennen Sie das Gedicht vom blinden König?" fragte er, „es ist von Ludwig
Unland." Und dann stellte er sich hin und sagte das Gedicht vom blinden König auf, ohne sich dabei ein einziges
Mal zu versprechen. Irgendwann ergab es sich, dass wir die Großeltern kennenlernten, die Kalinowskis, die im
Gartenhaus lebten, und da hörten wir dann die Geschichte vom Krieg, vom Einmarsch der Russen ins ostpreußische
Dorf, vom Winter, vom Hunger, von der Flucht und vom Verlust der letzten Habe. Und unter dem Herzen hatte die
Tochter dieses Kind mitgenommen, das sie nicht gewollt hatte. „Unseren kleinen Iwan", sagte die Großmutter,
und der alte Mann nickte ihr zu. Sie liebten dieses Kind, weil es ein Kind war und weil es von Schuld nicht
berührt wurde.
„Er hat ein krankes Herz", fuhr die Großmutter
fort, „deshalb sieht er immer so blau aus. und der Doktor hat gesagt, er wird nicht alt werden mit diesem
Leiden, und das ist nun unsere Sorge." Sie sagte es in ihrer ostpreußischen Mundart, und es war Unglück und
Glück in einem Atemzug. Kurz nach dieser Begegnung zogen wir in ein anderes Stadtviertel, und wir verloren Iwan
aus den Augen.
Dreißig Jahre später, das war vor einigen Tagen,
sah ich im Straßenbus einen Mann sitzen mit einer Nase, an die ich mich sofort erinnerte. Zwerg Nase, dachte
ich, Viktor Kalinowski. Er machte den Eindruck eines Menschen, der still in sich hinein eine Ballade aufsagt
und der keine Beziehung zu seiner Umwelt hat. Auf seinen Knien lag eine Aktentasche, und er trug eine Pelzmütze
mit Ohrenklappen, die er unter dem Kinn verknotet hatte, obwohl draußen doch beinahe Frühling
war.
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