Wöchentliches Lesekraftfutter

Der Mann, der die Lesemappen verteilt, un­sere wöchentliche Ration an Lesekraftfutter, ist in den Straßen unserer Stadt so regelmäßig zu sehen wie der Postbote und der Müllkutscher. Es ist sein Beruf geworden, Lesemappen auszutra­gen. Wir alle haben erlebt, wie stürmisch die Lesezirkelentwicklung vonstatten ging. Anfangs reichte dem Mann ein Leinenbeutel fürs Ge­schäft. Heute ist unser Freund motorisiert. Er hat sich ein Motorrad angeschafft, und daran hängt ein Wägelchen, das auf nicht unerhebliche Weise Reklame für das Lesen von Zeitschriften macht.
Die Kundschaft ist in Klassen eingeteilt. Die Klasse richtet sich nadi der Zahlungsfähigkeit des Lesers. Das Lesegut selbst zerfällt in „Gar­nituren". Die erste Garnitur kommt schnurstracks aus der Druckerei und ist appetitlich aktuell. Die Mappen liegen da wie frisch geschnittene Schei­ben vom Brotlaib der publizistischen Volks­nahrung.
Die fünfte Garnitur ist schon ein wenig ab­genutzt. Die Rätsel sind gelöst. Der Termin für die Einsendung der Lösung zum Fünfzigtau­ sendmarkpreisaussdireiben ist verflossen. Der Frauenmörder, der vor fünf Wochen noch fieber­haft gesucht wurde, sitzt hinter Gittern. Der Schnee, so auf den Dächern des Alpendorfes liegt, ist geschmolzen. Der Außenminister, der zur Konferenz kommt, ist abgesetzt. Das glückliche Filmehepaar hat längst das Hodizeitsservice zer­ deppert und die Sdieidung eingereicht. Der Kö­nigssohn, dessen Wonne es sein soll, Arbeitern beim Verlegen eines Kabels zuzuschauen, lang­weilt sidi bereits beim Anblick eines Flugzeug­trägers.
Alles fließt, sagt Heraklit. Nirgendwo tritt diese Erkenntnis deutlicher und sinnfälliger zu­tage als im fünften Abonnement eines Lesezir­kels. Was gibt es Neues? Lauter Altes gibt es neu. In der fünften Garnitur herrscht sibirisdie Kälte, indes auf dem Titelblatt der ersten Gar­nitur schon die Magnolien an der Riviera auf­ bredien. Und das nur deshalb, weil einem die Groschen fehlen. Wie gesagt, daß der Aetna in Tätigkeit ge­treten ist, erfahren die Fünfte­Gamitur­Leser erst demnächst in diesem Lesezirkel. Für sie geht die Zeitenuhr immer nach, sie marschieren im­mer hinten, sie dürfen erst dann an der Moritat schlecken, wenn die anderen sich längst an saftigen Novitäten atzen.
Nun, dafür kommen die Leser der fünften Garnitur in den Genuss der lustigen Randbe­merkungen zu dem Tralala und Juppheidi des Lebens, obwohl es verboten ist, die Mappen zu „beschmutzen". Jedoch sind Kommentare noch lange kein Schmutz, da sei das Grundgesetz vor. Notizen wie diese etwa: „Blöder Hund" und „Alberne Ziege" sind lediglich Aeußerungen des demokratischen Selbstbewusstseins. Jeder soll seiner Meinung mit Tintenstift Ausdruck verleihen. Wer schreibt, der bleibt — audi im Lesezirkel.
Natürlich ist es unfein, wenn jemand den Damen Sdmurrbärte anzeichnet und den Politi­kern Dolche ins Gebiss malt. So was gehört sich nidit. Aber schließlich gibt es schlimmere Dinge auf der Welt als derart martialisdie Retuschen.
Der Inhalt eines Lieferwägelchens voller Lese­mappen umfasst die Sensationen von rund sechs Wochen. Was da zentnerweise an Flug­zeugabstürzen, Schönheitsköniginnen, Eisenbahn­unfällen, Dsdiungelkrieg, Krebsforschung, Missgeburten, Filmverheißungen, Totogewinnen, Büsten­halterreklame und Romanstoff zusammenkommt, ist erstaunlich.
Gutes steht allerdings nicht darin. Es ist ein besonderes Merkmal unserer Zeit, dass das Gute nicht zur Drucklegung verlockt. Welche Zeitschrift käme wohl auf den Einfall, den Bäckermeister H. aufs Titelblatt zu setzten und darunter zu schreiben: „Hier ist der Mann, der seit 32 Jahren allmorgendlich um viere aufsteht und für uns Brötchen backt!?“ Wann wäre je eine Reinemachefrau der Ehre der Publikation teilhaftig geworden? Bäckermeister und Reinemachefrauen sind, titelblattmässig gesehen, verlegerischer Selbstmord.
Das Gute reizt nicht zum Lesen: es ist langweilig. Kurzweil bereitet nur die Kugel, die nicht ins eingene Fleisch dringt. Vergnügen macht nur der Eisberg, der den Dampfer rammt, auf dem andere tanzen. Lust erregt nur die Handfessel, die sich um die Gelenke fremder Männer legt.

Alles fließt, am beharrlichsten aber die Druckerschwärze.

Von Bernhard Schulz
Frankfurter Rundschau 6.Feb.1959