Der dritte Mann

Sie waren in derselben Stadt zur Welt gekommen, hatten dieselbe Schule besucht und hatten ein und dasselbe Mädchen angehim­melt. Aber das Mädchen mit Na­men Friedelind war zu Verwand­ten nach Amerika gezogen und hatte den Liebhabern daheim eine Karte geschrieben, auf der ihnen mitgeteilt wurde, dass es dort, wo Friedelind jetzt lebte, Waschbä­ren gäbe. Die Waschbären kämen nachts aus den Wäldern, schrieb Friedelind, um die Mülltonnen nach Fressbarem zu untersuchen. Nichts von Liebe oder Heimweh oder Anhänglichkeit. Richtig un­dankbar, das konnte man doch wohl sagen.
Sie hatten dann auch nicht allzu lange getrauert um diese ameri­kanische Friedelind mit den über­quellenden Mülltonnen, sondern sich an andere nette Mädchen ge­halten und geheiratet. Sie hatten Berufe erlernt und es zu Ansehen und Wohlstand gebracht. Einer von ihnen war sogar Geschäfts­führer des Einzelhandelsverban­des geworden.
Das Erfreulichste war vielleicht dies, dass sie in ihrer Jungmän­nerzeit, nach dem Reinfall mit Friedelind, einen Skatklub ge­gründet hatten, der heute noch bestand. Die Herren trafen sich an jedem Sonntagnachmittag ge­gen 16 Uhr abwechselnd bei dem einen oder anderen Skatbruder. Sie machten ihr Spiel auf dem Esszimmertisch mit der Decke aus Straminarbeit, indes die Damen einträchtig plaudernd im Neben­zimmer handarbeiteten und Tee tranken. Es war eine liebgewor­dene Angewohnheit, die sich über Jahrzehnte hinzog und nur durch den Krieg unterbrochen worden war. An der Hektik der Zeit gemessen, gaben die drei Herren mit ihren Damen ein lobenswertes Beispiel nachbarlichen Zusammenhalts und besonderer Lebensweise ab. Sie hatten sich vorgenommen, nett zueinander zu sein. Das Geld, das sie beim Spiel kassierten, steckten sie in ein Porzellan­schwein, das süßer Rache wegen Friedelind hieß und einmal im Jahr geöffnet wurde, wobei sie die Münzen zu kleinen Säulen stapelten und sich unentwegt ver­zählten, was zu Neckereien Anlass gab. Es geschah meist in der Vor­weihnachtszeit. Auch dies war Tradition, dass sie ihre Damen zum großen Essen mitnahmen, und zum Nachtisch gab es jedes ­mal „Birne Helene", weil eine der Damen Helene hieß. „Gut, dass wir unseren Skatklub haben", sagten sie. Aber eines Ta­ges ereignete sich etwas, das sie nachhaltig erschütterte. Einer der Herren, er war Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen und befand sich häufig auf Rei­sen, kam bei einem Verkehrsun­fall ums Leben. Ihn traf keine Schuld: Ausgerechnet ein Mann mit einem Mähdrescher hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Die beiden hinterbliebenen Kar­tenspieler schauten sich verdutzt an: Was nun? Sie fingen an zu begreifen, dass Irdisches nicht auf ewig hält. „Ehre seinem Anden­ken", sagten sie, „wir werden ihn nicht vergessen, er war ein unta­deliger Gefährte, aber er war auch unser dritter Mann, und der fehlt uns jetzt."
Wo finden wir ihn, den Dritten? Sie dachten daran, in der Zeitung ein Inserat aufzugeben. Suchen wir ihn auf dem Schwarzen Brett am Rathaus? Können wir ihn von der Kanzel herab anfordern? Die Damen lehnten ab, nein, sie hat­ten keine Lust, das Kartenspiel zu erlernen, sie wollten weiterhin der Handarbeit obliegen. Mussten sie jetzt die Sonntagnach­ Mittage, auf die man sich die Wo­che hindurch gefreut hatte, aufge­ben? Plötzlich schwärmten die Damen davon, wie gemütlich es immer gewesen war, die Männer nebenan lärmen zu hören und zu wissen, dass sie beschäftigt waren. Und was wurde aus dem großen Essen, wenn das Porzellanschwein Friedelind nichts mehr hergab? Den guten Menschen hilft der Zu­fall, und der Zufall fügte es, dass eine der Damen im Kosmetiksalon auf eine Auszubildende traf, die verlauten ließ, sie spiele mit ihren Brüdern Skat, was ja für 16jährige nicht gerade typisch ist. Die Auszubildende, ein Mädchen von angenehmem äußeren und wa­cher Intelligenz, erklärte sich ein­verstanden, das Skatspiel mit den beiden Männern, die ja bereits im Rentenalter standen, zu versu­chen.
Hannelore erschien zur verein­barten Zeit, trank ein Tässchen Tee mit, mischte die Karten, gab aus, reizte, stach, passte, verlor, gewann, und es stellte sich her­ aus, dass sie den beiden Herren durchaus gewachsen war. Hannelore aus dem Kosmetiksalon brachte jugendliche Begeisterung und wohltuende Frische mit. Al­les in allem erinnerte sie die bei­den Herren an Friedelind, als Friedelind noch nicht entschlos­sen gewesen war, Amerikanerin zu werden und Waschbären zu füttern.
Die erste Begegnung an einem dunklen Sonntag im November, untermalt von aufkommender Adventsstimmung, liegt nun schon fünf Jahre zurück, und das Mäd­chen aus dem Kosmetiksalon ist inzwischen verheiratet. Eisern hält die junge Frau an der Porzel­lanschweinbruderschaft fest und erscheint an den Sonntagen pünktlich zur Skatrunde, was durch den Umstand erleichtert wird, dass der Ehemann Mittel­stürmer ist und aufs Fußballfeld eilen muss. Der Mittelstürmer ist jedoch zum traditionellen großen Essen eingeladen, und es wird auf einen Tag gelegt, an dem weder Training noch Spiele stattfinden.
Ich weiß, diese Geschichte von der jungen Frau aus dem Kosme­tiksalon, die mit zwei alten Bur­schen Skat drischt, lässt sich nicht vergleichen mit der Spannung, die in Berichten über Bankräu­ber, Geiselnehmer und Flugzeug­entführer aufkommt. Wenn ich jedoch umherschaue und erlebe, wie die Leute mit Fäusten und Zähnen aufeinander losgehen und sich alt und jung so schwer ver­tragen, dann, meine ich, sollte man´s doch erzählen.

Von Bernhard Schulz

Sonntagsblatt Bayern 12.Nov.1978