Klasse „C“ ist gar nicht schlecht

Für Personen, die kein Auto be­sitzen und auch sonst nichts zu knattern haben, wurde die Gesellschaftsreise er­funden. Die Gesellschaftsreise ist keine Reise zu zweit, sondern zu Hunderten. Sie findet per Eisenbahn oder per Omnibus statt.
Ich habe soeben eine Reise im Omni­bus mitgemacht. Es war sehr schön. Wir waren achtundvierzig Personen, von allem etwas, Erzieher, Lebensmittel­händler und Büroangestellte. Eine Oma von zweiundsiebzig Jahren war die fidelste Person von allen.
Es ging gen Süden. Gesellschaftsreisen gehen immer gen Süden. Ich habe noch nie gehört, dass sich achtundvierzig Er­zieher, Lebensmittelhändler, Büroange­stellte und eine kreuzfidele Oma in Richtung Nordpol aufmachten.
Wenn jemand wissen will, was an einer Omnibusreise verlockend ist, dann sage ich: die Betten. Kein Mensch glaubt, wie entsetzlich viele Sorten von Schlaf­gelegenheiten es gibt. Die Teilnehmer an der Gesellschaftsreise sind Klassen eingeteilt, A, B, C, D, und der Reise­leiter hat hübsch zu tun, die Leutchen nacheinander auf den richtigen Buch­staben zu bringen.
Ich hatte C gebucht. „Buchen" klingt vornehm, nicht wahr? Mit der Frage „Welche Klasse haben Sie gebucht, Herr Nachbar?" beginnt im Omnibus jedes Gespräch. Freundschaften werden hier mit Buchstaben angeknüpft. „Wohin reisen Sie?" geht nicht, weil das Ziel ja für alle gleich ist.
In Klasse C hat der Reisende An­spruch auf fließendes Wasser im Schlaf­zimmer. Auch sonst herrschen in C durchaus gehobene Verhältnisse. Ein Mann, der C gebucht hat, gilt den übrigen Reisenden als Angeber. Er hat es ja.
Mein erstes Bett stand über der Laut­sprecheranlage eines Kleinstadtkinos. Die Vorstellung nannte sich „Spätvor­stellung". Der Film hieß „Der rasende Tod". Verstanden habe ich nicht ein Wort, aber der Film muss unheimlich spannend gewesen sein. Es handelte von zahlreichen Kraftwagen, die sich gegen­seitig umbrachten. Die Dreiachser waren die schlimmsten.
Das war das erste Bett. Beim zweiten hatte ich mehr Glück. Es stand im ehe­lichen Gemach einer Metzgermeister Familie. Ich sollte für die Nacht über dem Kino entschädigt werden. Der Reiseleiter sagte nämlich, dass es bei einem Metz­germeister zum Frühstück Wurst gäbe, vielleicht sogar Brühe, was doch be­kömmlicher sei als Kaffee nach des Hauses Art.
Es gab weder das eine noch das andere. Aber um viere in der Früh fing der Meister an, Schweine abzustechen. Als ich mit meinen zerfetzten Großstadt nerven eiligst entfloh, rief mir der Mei­ster nach: „Ja, mei, woas hoab's denn?" Ich gab ihm keine Antwort; denn die Gesellen waren gerade dabei, einen Ochsen ins Schlachthaus zu zerren und Ochsen tun mir sowieso schon leid.
Das dritte Bett stand neben einem Wasserfall. Der Wasserfall war berühmt, und das Zimmer roch herrlich nach Holz und frischem Leinen. Das Waschwasser befand sich in einer emaillierten Kanne, auf der Fliegenpilze abgebildet waren. Es war stehendes Waschwasser. Der Reiseleiter hatte mir ein A für ein C vor­gemacht. Aber die Nacht hindurch don­nerte der berühmte Sturzbach erbar­mungslos am Fenster vorbei. Fließen­deres Wasser gibt es gar nicht.
Dann waren wir da. Das Ziel der Ge­sellschaftsreise war ein paradiesisches Alpendorf, das eben erst dem Touristen­zustrom preisgegeben worden war. Das Wasser in meinem Zimmer entsprach der vertraglichen Klausel, alles was fließend ist, aber nebenan betrieb der Verkehrsverein eine Kleinkunstbühne, auf der bis spät nachts zünftiges Bauern­theater und Watschentänze einstudiert wurden zur Belebung des Fremden­verkehrs.
Watschen sind Ohrfeigen, und Ohr­feigentänze sind Tänze, bei denen sich junge oberbayrische Burschen, linkes Ohr, rechtes Ohr, lustvoll verhauen. Das tönt, zu nachtschlafender Zeit jedenfalls, sehr aufregend.
Von all dem abgesehen muss ich der n Klasse C das beste Zeugnis ausstellen. C ist gar nicht schlecht. Ich will nicht undankbar sein. Ohne die Omnibusreise, gebucht auf C, hätte ich jemals weder sterbende Schweine noch watschende Baum so eindringlich erlebt, vom Sturzbach und den mordenden Dreiachsern ganz zu schweigen. Ich kam zu meinem Bett, aber das Bett kam nicht zu mir. Is scho' reecht.

Von Bernhard Schulz
Die Welt