Würstchenstand bei großer Kälte

Die Kälte ist schlimm. Manchmal, wenn ich warten muss, an der Omnibushaltesteile oder vor dem Denkmal, an dem ich mich verabredet habe, packt sie mich und schüttelt mich durch und durch.

Ich beschließe, etwas gegen die Kälte zu tun. Einen Schnaps zu trinken oder ein heißes Würst­chen zu essen oder irgend etwas in dieser Art. Allein der Gedanke daran wirkt wohltuend. Auch die Menschen, die mir begegnen, sehen aus, als überlegten sie fortwährend, auf welche Weise sie zu etwas Heißem gelangen könnten.

Es muss schnell da sein, dieses Heiße, sonst nutzt es nicht mehr viel. Die Kälte ist schlimm, ich sagte es schon. Der Körper stemmt sich gegen den eisigen Wind. Regen nässt die Wangen, und die Ohren tun weh, ganz schön weh.

Und dann steht sie da, die Bude der Labsal, die Stätte des Trostes, die Kartause der heißen Würstchen. Auf dem Bürgersteig liegen Dutzende von weißen Papiertellern. Hinter der Zeltplane hört die Kälte plötzlich auf. Der Mann, der mit hochgekrempelten Hemdsärmeln hinter dem Brat­rost steht und die brutzelnden Würstchen wendet, hohnlacht der Kälte; ihm macht der Winter Freude.

Die Kohlen unter dem Rost glühen, das Radio jazzt, und eine Dame, die für Erfrischungsgetränke Reklame macht, spielt Hochsommer auf ihrem Plakat. Sie ist unbeschreiblich süß. Bei ihrem An­blick kommt jeder Mann sofort auf den Gedanken, dass es solche Frauen gar nicht gibt. Sie werden von Werbefachleuten erfunden und in Würstchen­buden zur Schau, gestellt, das ist alles.

Und jetzt kommt das Würstchen. Es ist be­gleitet von einer Welle fettheißen Dunstes und eingehüllt in irdischen Wohlgeruch. Ein Brötchen umklammert den tropfenden Leckerbissen, und ein Gefäß mit Senf wird herangerückt. Bitte sehr. Danke.

Der erste Bissen ist der beste. Bratwürstchen sind eine positive Erfindung. Die Fettflecken, die sie auf dem Revers verursachen, sind wahrlich nicht das Schlimmste, was einem mit Erfindungen passieren kann.

„Mahlzeit", sagt der Mann mit seinen nackten Armen. Er ist sich seiner Würstchen bewusst. Er weiß, was ein Mann mit Bratrost um diese Zeit wert ist. Der Mann steht da und lächelt. Vielleicht denkt er daran, in seiner Bude einen Spiel­automaten aufzustellen. Manche Kunden wollen, wenn sie draußen etwas verzehren, an einer Scheibe drehen oder auf irgendeinen Knopf drücken, der ihnen die Chance gibt, einen Schnaps oder vielleicht sogar ein Würstchen zu gewinnen.

Ich sehe ihm an, wie es ihn beschäftigt, aus der Zeltplane eine Bretterwand und später eine Mauer aus Stein zu machen. Ein richtiges Haus. Traum eines Mannes mit tätowierten Armen von einem richtigen Haus mit Konzession für Würst­chen ...

Plötzlich fällt ihm ein, dass die Leute im Som­mer auf heiße Würstchen nicht mehr so begierig sind. Er fängt eifrig an, frische Ware auf den Rost zu legen. Es packt ihn.

Der Hauptgewinn müsste ein Würstchen sein, denkt er, das ist die Sache. So was lockt die Men­schen. Wenn sie etwas umsonst bekommen können, dann sind sie da.

Ich überlege, ob ich mit dem Mann ein Ge­spräch, anfangen soll. Ich könnte fragen, ob heute viel zu tun war und ob jemand dagewesen ist, der sich nach der Adresse der Dame auf dem Plakat erkundigt hat... Aber was hat es schon für einen Sinn zu fragen. Der Mann am Bratrost weiß genauso wenig über sie wie wir alle.

Von Bernhard Schulz

Frankfurter Rundschau 16.Dez.1961