Szene in einem Schlossgarten 1963

Der Ort lag im Voralpenland. Ein Bach faulenzte sich an den Häusern vorbei, und ringsum standen Wälder. Die Feriengäste unternahmen ausgedehnte Wanderungen, und außerdem bot ein Reisebüro „tägliche Rundfahrten“ an. Es gab da ein paar alte Kirchen mit Barockaltären, ein Schloss mit einer Waffensammlung und eine Wassermühle, die noch in Betrieb war. Im kommenden Jahr sollte ein Wildpark eröffnet werden.
Ich hatte mich einer dieser täglichen Rundfahrten angeschlossen. Die Barockaltäre und das Schloss sollten besichtigt werden. Im Bus herrschte eine fröhliche Stimmung. Die Menschen hatten das Gefühl, einsam gewesen zu sein, nun konnten sie nicht genug davon bekommen, nebeneinander zu sitzen und über dies und jenes zu reden, zum Beispiel über den Werbespruch des örtlichen Verkehrsvereins. Er hieß: Langweilen Sie sich gesund.
Es war gemütlich, sich treiben zu lassen und sich um nichts zu kümmern.
Der Fahrer gab Erläuterungen zur Landschaft ab und sagte, dass es in den Wäldern Hirsche und Dachse gäbe. Ich konnte mir einen lebenden Dachs überhaupt nicht vorstellen. Als Kind hatte ich einmal einen Dachs gesehen. Er stand auf einem Schreibtisch und hielt eine Laterne in den Pfoten. Er war sogar an den elektrischen Strom angeschlossen.
Um die Kaffeestunde traf die Reisegesellschaft vor dem Schloss ein, auf dessen Terrasse eine Erfrischung eingenommen werden sollte. Von der Terrasse aus sah man den Park daliegen mit alten Bäumen und vergrützten Gräben und geschorenem Rasen, auf den schon rote Blätter tropften.
Aber nun trat eine Störung im Programm ein. Das Schlossgartencafé war dem Ansturm und den Wünschen der großen Gesellschaft diesmal nicht gewachsen. Der Wirt bediente mit der linken Hand das Küchenbuffet und mit der rechten die Registrierkasse. Besondere Umstände – es mochte sich um Urlaub oder Krankheit handeln – hatten diesen Notstand hervorgerufen. Es war nur ein einziger Kellner zur Stelle, ein Junge, etwas linkischer Mann, dem man unseligerweise einen Frack angezogen hatte, der doch immerhin eine gewisse Tüchtigkeit voraussetzt.
Der junge Mann war jedoch alles andere als tüchtig. Vielleicht besaß er keine Erfahrung. Vielleicht war dies sein erster Tag. Vielleicht hatte er vorgehabt, Forschungsreisender oder Testpilot oder Schriftsteller zu werden. Jedenfalls hatte er nicht die leiseste Ahnung, auf welche Weise ein Kellner in weniger als drei Minuten die zehntausend Aufträge von fünfzig Personen befriedigt.
Bitt schön. Kaffee mit und ohne Milch. Bier eiskalt und Bier lauwarm. Pflaumenkuchen mit und Pflaumenkuchen ohne Schlagsahne. Buttercremetorte. Mohrenkopf. Liebesknochen. Nussgebäck. Sachertorte. Schokolade. Brötchen. Schmalzkringel. Rührei. Würstchen. Limonade. Kraftbrühe. Briefmarken. Weißwein. Baumkuchenspitzen. Nähnadel mit Zwirn. Schinkenbrot. Streichhölzer.
Der junge Mann im Frack schrieb jede Bestellung auf und wiederholte sogar: „Eisbrecher mit Früchten, sehr wohl. Würstchen gnä' Frau Schlagsahne dazu? Keine Schlagsahne. Ist recht, gnä' Frau. Und was darf ich dem Herrn servieren? Einmal Weinbrand, sehr wohl, der Herr!“
Der junge Mann war ein artiger junger Mann. Er hatte nichts Geringeres vor, als es jedem der Gäste recht zu machen. Aber er kam mit seiner Kritzelei leider nicht vom Fleck. Die Gäste wurden ungeduldig und beschwerten sich laut. Sie brachten kein Verständnis dafür auf, dass auch ein Schlossgartencafé gelegentlich in einen Notstand geraten kann. „He, Sie Trottel!“ schrie jemand, „wollen Sie uns verdursten lassen? Sind Sie Kellner oder nicht?“
„Sehr wohl, der Herr. Moment bitte, gnä' Frau!“ Der junge Mann flitzte. Der Ernst des gastronomischen Lebens sprang ihn an mit den bösen Zungen und giftigen Kollegen einer 50-köpfigen Busbesatzung, der es gar nicht einfiel, sich gesund zu langweilen.
Es kam, wie es kommen musste. Der junge Mann brachte alles heillos durcheinander. Den dicken Damen servierte er Buttercremetorte und den mageren Damen trockene Brötchen. Die Herren erhielten Limonade und die Kinder Flaschenbier, und als der Tumult ausbrach, stolperte er über einen Spazierstock und fiel mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr längelang hin.
Entsetzen und Stelle. Der junge Mann erhob sich und starrte auf den Scherbenhaufen wie auf einen verlorenen Krieg. Mit einmal fiel alle Unruhe von ihm ab. Er war zu einem Entschluss gekommen. Er gab es auf, Kellner zu sein. Ohne ein Wort zu sagen und ohne auf jemanden einen Blick zu werfen, ließ er langsam den Frack von den Schultern herabgleiten und buckelte ihn sorgfältig über einen leerstehenden Stuhl. Es war wie in einem Film, der zu Ende geht. Dann machte er wie im Schlaf ein paar Schritte auf die Treppe zu, stieg hinab und ging durch den Park davon.
Die Gäste schauten ihm nach. Jetzt rührte sich keine Zunge und kein Löffel mehr. Die Reisegesellschaft hatte einen Mann nicht geradezu umgebracht, aber sie hatte ihn doch auf irgendeine Weise erschlagen. Es war etwas geschehen, und sie spürten alle miteinander, dass es mehr war als zerschelltes Porzellan.
Als der Kellner nicht mehr zu sehen war, stand ein junges Mädchen auf und fing schweigend an, die Scherben zu sammeln. Zwei andere Mädchen boten sich dem Wirt an, die Bedienung zu übernehmen und das Geschirr abzuwaschen. Der Frack hing noch lange da, als alles schon längst vorüber war.
Das junge Mädchen, das sich zuerst erhoben hatte, um die Scherben beiseite zu tun, saß im Omnibus auf der hintersten Sitzreihe. Es dachte über die Szene nach, und es fragte sich, wohin der Kellner gegangen sei. Nach Hause? Hoffentlich trifft er jemanden an, der sich um ihn kümmert, dachte das junge Mädchen. Es hatte nie in seinem Leben einen Mann gesehen, der in Hosenträgern davon gegangen war und Schluss gemacht hatte.
Was ich als Zuschauer sagen will, ist dies: Solange es noch eine einzige gute Seele gibt, die trauert, dürfen wir übrigen die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Mensch sich bessert.