Einsamkeit in Tirol

In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg wurden der Jugend bei be­sonderer Gelegenheit Sparbüchsen zum Geschenk gemacht, die einem Tiroler Bauernhaus nachgebildet waren. Im Dach befand sich der Schlitz für den Pfennig, und unten konnte das win­zige, aus lackiertem Blech verfertigte Häuschen mit einem Schlüssel geöffnet werden.

Ich habe jahrzehntelang gewusst, wie Tiroler Bauernhäuser äußerlich be­schaffen waren, und mit Hilfe von poe­sievollen Wandbildern konnte ich mir die von Kühen, Gemsen und Sennerin­nen belebten Berge vorstellen.

Heute wundert es mich, dass es diese Sparbüchsenhäuser auch in Wirklich­keit gibt. Die Dächer sind mit Holz­schindeln gedeckt und mit Feldsteinen beschwert. Rings um das wuchtige Haus läuft eine hölzerne Galerie, auf der die Hosen der Tiroler Bauernbuben zum Trocknen an der Leine hängen. Der Haussockel ist rundum mit ofen­fertig gespaltenem Holz, mit Sonnen­blumen, Viehtrögen und Sitzgelegen­heiten ausgestattet.

Die Sparkasse hat nicht gelogen - es ist heute noch alles so, wie es in die Vorstellungswelt des Knaben einge­drungen war.

Nehmen wir zum Beispiel das Tiro­ler Dorf Hafling. Es liegt andert­halbtausend Meter hoch und ist seiner Pferdezucht wegen berühmt. Die Pferde grasen jetzt im Spätsommer noch auf den Almen, „drei Stunden weit in den Berg hinauf", wie die Tochter vom Messnerwirt sagt.

Das Dorf besteht aus Kirche, Schule, Gemeindeamt und Gasthaus. Eine Scheune kommt hinzu. Beim Messner­wirt kann man unter einem Nussbaum sitzen und dunkles Bauernbrot essen. Der rote Wein kommt aus dem Keller unter der Küche. Ein Paar Höfe sind zu sehen. Mehlweiß schlängeln sich die Pfade durch grüne Wiesen. Die ganze Landschaft riecht nach Brot und Heu und Kuh. Es ist ein guter Geruch, um den die Leute von Hafling zu beneiden sind.

Es gibt Verlockungen hier, denen der Fremde nicht gewachsen ist. Er muss heimlich auf den Heuboden des Mess­nerwirts schleichen und die Hände auf das grausilberne Holz legen. Wieviel Ursprünglichkeit, wieviel Kraft und welche Geheimnisse hütet es! An den Brettern dieser Scheune ist das Leben vieler Generationen von Bergbauern entlanggeflossen, lange Wintermonate und heiße Sommertage, Jahre voller Einsamkeit und Unberührtheit.

Einsamkeit in Tirol
Kirchdorf im Ultental

 

Das große Leben spielt sich in den Tälern ab, in Meran, das heute Merano heißt, und in Bozen, aus dem die Ita­liener die Industriestadt Bolzano ge­macht haben. Dort unten gibt es ver­chromte Espressobars und Kinos mit Marmorfassade, Luxushotels und Park­plätze für Straßenkreuzer mit Heek­flossen. Wohl hat auch der Messnerwirt das Wort „Trattoria" über der Türe stehen, und das Gemeindebüro heißt „Municipio", aber die Bauern und Holzarbeiter, die beim Messner sonn­tags ihren Roten trinken, sprechen noch derbes Tiroler Deutsch..

Auch der Pfarrer, der die kleine Ge­meinde verwaltet, sitzt beim Messner und redet die Sprache Andreas Hofers. Auf dem schwarzen Rock trägt der geistliche Herr das Eiserne Kreuz erster Klasse, womit er offen zugibt, auf welcher Seite ihm das Herz schlägt.

Die Haflinger Kinder haben Ferien; vor den Fenstern der „Scuola ele-mentari - Volksschule" welken die Ge­ranien in der heißen Mittags Grab ausgehoben. Eine Mutter ist von vier Kindern weggestorben, „am Blind­darm", sagt der Messner. Sie war dreißig Jahre alt.

 

Einsamkeit in Tirol

Bauernhaus in Hafling

 

Der Doktor muss aus Meran herauf­geholt werden. Er hat Vorfahrtsrecht auf dem Seil der Kabinenbahn, die in acht Minuten achthundert Meter schafft. Der Motorroller steht in der Station dort oben immer startbereit, und den entlegensten Hof erreicht der Doktor in einer halben Stunde, wann's Wetter gut ist". Aber manchmal ist es eben doch zu spät, um ein Menschenleben zu retten.

Die Gräber liegen entlang der Mauer, die Kreuze sind mit den Fotografien der Verblichenen geschmückt, und Efeu und Rhododendron wuchern üppig. Der Friedhof ist klein, „viel Platz ist nim­mer", sagt der Messner, und deshalb muss die Erde schon nach fünfzehn Jahren den Schläfer wechseln.

Die Bauern hier oben sterben nicht gerne im „Ospedale-Krankenhaus", und wenn sie dort sterben, haben ihre An­gehörigen Schwierigkeiten mit der Überführung der Leiche in die Heimat­gemeinde. Sterbende werden mit dem Kraftwagen schnell nach Hause ge­schafft. Oft schließen sie unterwegs die Augen, aber gottlob schon im Bereich des Kirchleins, hinter dessen Mauern auch die übrigen Grubers, Sulfners, Zuegg, Hofers und Speckbachers be­stattet liegen.

Das Leben in Hafling ist eintönig, aber es ist eintönig seit Jahrhunder­ten. Die Männer tragen grüne Schür­zen um den Leib. Wenn sie unterwegs sind, drehen sie die Schürze zu einer Wurst zusammen. Die Frauen und Mädchen haben das Haar kranzförmig um den Kopf liegen. Auf dem Rücken tragen sie nach unten spitz zulaufende Kiepen, die mit dem eingekauften Gut gefüllt sind. Die Kinder bevorzugen beim Bergsteigen ein Tragegestell aus Holz, in das Körbe und Lasten aller Art eingebunden werden.

Dies alles erweckt den Eindruck ar­chaischer Einfachheit und Armut. Am Reichtum der mit Wein und Obst und Kurgästen gesegneten Täler nehmen die Bergbauern nicht teil. Feriengäste die sich in die Einsamkeit verlaufen in gekalkte Schlafkammern mit „ste­hendem" Wasser, wo es unten doch überall „fließendes" gibt, in Dörfer ohne Kurkonzert und Misswahl, nun die sind rar geworden, und ganz sicher handelt es sich bei solchen Einzelgän­gern nicht um Geldbarone.

Hier, anderthalbtausend Meter über dem Meeresspiegel ist die Luft rein. Sie ist statt mit den Abgasen der Ver­brennungsmotoren und dem Dunst der Fabriken mit dem Geruch des Alpen­heus und dem Duft der Baumharze ge­füllt. Von den Bergen herab stürzen eisblaue Bäche durch Waldschluchten und Almwiesen. Der Wanderer schwelgt geradezu in Poesie. Er ist allein, die Straße hat aufgehört, nichts hindert ihn daran, befreit aufzuatmen und glücklich zu sein.

So groß ist die Einsamkeit hier oben, dass Menschen, die einander begegnen "Grüß Gott" sagen; denn der Himmel ist ihnen ziemlich nahe.

Zeichnungen von Gerhard Sperling