Ein Laden für Damenhüte

Über Fräulein Hofleitners Herkunft wußte meine Mutter nur, daß ihr Vater Tanzlehrer gewesen war und aus Wien stammte, jener Stadt im heiteren Süden, aus der auch die Walzer und die Reitkunst und die Schokoladentorte kamen. Aber dieses Ereignis mußte sehr weit zurückliegen. Vielleicht hatte es eine Zeitlang in Wien mehr Tanzlehrer gegeben als Leute, die Tanzen lernen wollten.
Fräulein Hofleitner selbst war schon nicht mehr in Wien zur Welt gekommen, und aus irgendeinem Grund schien sie sich für Wien überhaupt nicht begeistern zu wollen.
Sie kann ja nicht einmal weane- risch reden", sagte Frau Schatz, die gelegentlich bei Fräulein Hofleitner hereinschaute, und weanerisch reden war eine Sache, die Frau Schatz aus ihren Romanheften kannte. So hatte sie zum Beispiel den Roman „Die Ehre der Gräfin Radziwill" gelesen, und die Radzi- will hatte weanerisch gesprochen, wie ja im allgemeinen alle Gräfinnen weanerisch daherreden, bittschön, aber die Radziwill war ja keine richtige Gräfin gewesen, sondern eine Fleischerstochter.
Fräulein Hofleitner betrieb in einer Nebenstraße, die „Gäßchen" hieß, ein Hutgeschäft. Das Gäßchen war so schmal, daß es für den Autoverkehr gesperrt werden mußte und nicht einmal als Einbahnstraße zugelassen werden konnte. In Fräulein Hofleitners Jugendzeit, als es noch keine Warenhäuser gab, in denen es vom Druckknopf bis zur Polstergarnitur alles zu kaufengab, sondern nur diese kleinen Läden mit ihrem silbernen Klingelingeling über dem Eingang, hatte Fräulein Eleonore Hofleitner den ehrenwerten Beruf der Putzmacherin erlernt. Hüte waren Putz, ähnlich wie eine Hauderei eine Hauderei war, und niemand verstand, warum sie dafür so eigenartige Worte gefunden hatten.
S
ie verdiente gut. Was Hüte anbetraf, so hielt sie mit der internationalen Mode durchaus Schritt, sie hatte ja auch immer die neuesten Zeitschriften aus dieser Branche auf dem Tischchen liegen, an dem. die Damen in Korbsesseln Platz nahmen, wenn gewartet werden mußte.
Fräulein Hofleitner war eine Autorität in Hüten. In Anzeigen, die sie ins Lokalblatt einrücken ließ und in die Jubiläumsschriften der Vereine, rief sie den Lesern zu: „Übrigens — man geht nicht mehr ohne Hut."
Aber mit der Zeit, die ja die Mode verändert, schienen die Damen, vor allem die jungen Frauen, keinen Wert mehr auf Hüte zu legen. Sie banden sich einfach ein Tuch um, wenn es regnete oder der Wind an ihrem Haar zauste. Im Auto waren Hüte ohnehin lästig. Das Hutgeschäft florierte nicht mehr. Vielleicht war auch die Haarmode daran schuld; denn die Friseure gaben sich große Mühe, die nicht unter Filz und Stroh unbeachtet bleiben durfte.
Jedenfalls schepperten die Messingröhrchen über dem Eingang zum Hutgeschäft der Eleonore Hofleitner (alleinige Inhaberin) längst nicht mehr so oft wie früher. Ihr ohne Hut" war überholt. Die Putzmacherin, deren Diktatur in Hutmode die Damenwelt des Dorfes sc lange geduldet hatte, wurde mitleidig belächelt. Man ging gelegentlich eben doch ohne Hut.
Es war nicht zu beschreiben, was die Zeit alles veränderte, verwandelte,ja geradezu kaputtmachte, und das nicht allein im Putzmachergewerbe.

Die Zeiten, da Mädchen und Frauen für den Besuch der Sonntagsmesse einen Hut aufsetzenmußten, waren vorbei. Mit Vergnügen erinnerten sich manche Dorfbewohner an die Witwe Köt- tering, deren drei erwachsene Töchter keinen Verehrer finden konnten, obwohl ihnen niemand nachsagen wollte, daß sie häßlich seien. In diesem aus vier Frauen bestehenden Haushalt ging es ärmlich zu, und es gab nur einen einzigen Hut, den die Frauen geringschätzig “unsere Dohle” nannten und den sie bei Kirchgang nacheinander tragen mußten. Frau Köttering besuchte die Frühmesse um sechs Uhr. Auf dem Heimweg riß ihr eine der Töchter den Hut vom Kopf, setzte ihn auf und stürmte in die Sieben-Uhr-Messe. Und so ging es weiter bis zur “kleinen Messe” um elf Uhr, die ein pensionierter Priester las. Die Szenen, die sich beim Hutwechsel vor dem Kirchenportal abspielten, erheiterten die Leute – aber wie gesagt, diese Zeit war vorbei.

Eines Tages gab Fräulein Hofleitner auf. Es war an dem Tag, an dem sie ihren siebzigsten Geburtstag feierm wollte, und sie hatte diesen Termin für den letzten Akt ihrer theatralischen Hutschaffe seit langem ausgewählt. Sie schloß den Laden ab. Das Klingelingeling der Messingröhren über dem Eingang ertönte zum letzten Mal, als die Putzmacherin das Haus Im Gäßchen 5 verließ und den Schlüssel dem Vertreter einer Maklerfirma überreichte, der unweit ihres Hauses gewartet hatte und dem Frälein verlegen einen Strauß gelber Rosen überreichte.
Aber sie hatten immerhin so etwas wie Gefühl für meinen Abgang”, sagte Fräulein Hofleitner später.
Es hieß dann, das Haus sollte abgerissen werden, das ganze Gäßchen sollte verschwinden, und irgendwann würden sie hier mehrstöckige Mietshäuser bauen und Einstellplätze für Kraftwagen schaffen, und blumengeschmückte Hüte gäbe es dann überhaupt nicht mehr. Aber wer konnte schon in die Zukunft schauen? Wer war klug genug, dies alles zu wissen und zu ordnen und Profit daraus zu ziehen – Fräulein Hofleitner vielleicht?
Etwas ereignete sich dann doch, über das geredet wurde, und das war an jenem Tag, als die Maklerfirma , die Haus und Grundstück erworben hatte, den Laden von Fräulein Hofleitner ausräumen ließ. Was da aus Wandschränken, Theken und Regalen ans Licht kam, ans Tageslicht da draußen, war das reinste Hutmuseum. Es war ein Panoptikum an Kopfdeckeln, ein Wirbel aus aus bunten Filz , feinem Stroh, künstlichen Blumen, flaumigen Reiherfedern, kuriosen Vogelgestecken, seidenen Bändern, welkem Samt, verblaßten Pailletten, vergilbtem Elfenbein, Knöpfen aus Halbedelstein und weiß der Himmel, womit die Damen früher ihre Hüte geputzt hatten.
Die Arbeiter, mit einer Bierflasche in der Hand, die meist die linke Hand war, setzten sich Schuten , Kapotthüte und karrenradgroße Blumenbeete auf den Kopf. Sie zogen ein Theaterstück auf, das “die vornehme Dame” hieß und komisch wirken sollte. Sie trippelten geziert einher, spitzten den Mund und hauchten “O du Süßer”, und sie tanzten sogar miteinander , wobei sie trotz der weiblichen Vermummung oder vielleicht gerade deswegen wie dressierte Bären aussahen.
Sie hatten eine Menge Spaß an ihrer Aufführung, Spaß allerdings auf Kosten jenes alten Fräuleins, das alle diese Hüte hergestellt und bewahrt hatte und nun den Laden aufgeben mußte, weil er altmodisch und unrentabel geworden war.


Ruhrwort Jg. 19 / Nr. 7 / 12. Februar 1977